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Die Schwellenländer melden sich zurück

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Aktien aus den Schwellenländern – auch Emerging Markets genannt – haben einen regelrechten Traumstart ins neue Jahr hingelegt. Der Frage, ob es sich hierbei nur um ein Strohfeuer oder um den Startschuss für eine längerfristige Aufwärtsbewegung handeln könnte, gehen wir in diesem Logbuch-Beitrag nach. Zu Beginn steht jedoch die Klärung einer ganz anderen Frage:

Was ist ein Schwellenland überhaupt?

Das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung führt hierzu aus: Eine exakte, international gültige Definition des Begriffs „Schwellenland“ gibt es nicht. Schwellenländer werden meist den Entwicklungsländern zugeordnet. Typisch für sie ist, dass sie sich in einem umfassenden Wandlungsprozess befinden und oftmals ein hohes Wachstum der wirtschaftlichen Leistung und des Pro-Kopf-Einkommens aufweisen. Die soziale Entwicklung (zum Beispiel Gesundheit, Bildung, Energie- und Wasserversorgung) kann in Schwellenländern allerdings häufig noch nicht mit dem wirtschaftlichen Wachstum mithalten.

Anders ausgedrückt: Diejenigen Länder, die nicht mehr zu den ärmeren Entwicklungsländern zählen, aber auch noch nicht zu den reicheren Industrienationen, nennt man Schwellenländer – das heißt: Sie stehen quasi an der „Schwelle“ zum Industriestaat.

Die größten Schwellenländer weltweit

MSCI Emerging Markets Index – das „Fieberthermometer“ der Schwellenländerbörsen

Der mit Abstand wichtigste und bekannteste Index zur Messung der Aktienmarktentwicklung in den Schwellenländern ist der MSCI Emerging Markets Index. Aktuell beinhaltet der Index knapp 1.400 Aktiengesellschaften aus 27 verschiedenen Schwellenländern. Beherrscht wird der Index von der Region Asien, wobei sich trefflich darüber streiten lässt, ob das Indexschwergewicht China – die immerhin weltweit zweitstärkste Wirtschaftsnation (nach den USA) – noch zu den Schwellenländern zu zählen ist. Als Argumente für das Festhalten am Schwellenländerstatus werden häufig bestehende enorme soziale und regionale Ungleichheiten im Land angeführt.

Geographische Verteilung der Schwellenländer nach Regionen
Geographische Verteilung der Schwellenländer nach Ländern

Aktien aus den Schwellenländern haben gemessen am MSCI Emerging Markets Index – wie eingangs bereits erwähnt – einen fulminanten Start ins neue Jahr hingelegt: Seit Jahresbeginn haben sie über 7 % an Wert gewonnen und damit die Konkurrenz auf die Plätze verwiesen. Der breitgestreute MSCI World, der Aktien-Leitindex der Industrieländer, legte nur um knapp 3 % zu (jeweils auf Euro-Basis, ohne Dividenden – Stand: 25.02.2021). Jüngst hat der MSCI Emerging Markets auch sein bisheriges Allzeithoch überwunden, sowohl bei der klassischen, in US-Dollar berechneten Indexvariante als auch bei der in Euro umgerechneten Variante, die in der nachfolgenden Grafik zu sehen ist. Das Allzeithoch des Dollar-Index stammte aus dem Jahr 2007. Damals waren vor allem die sog. „BRIC-Staaten“ – Brasilien, Russland, Indien und China – in aller Munde und Anleger bereit, stolze Preise für Aktien aus diesen Ländern zu bezahlen, um am vermeintlichen Wachstumswunder in diesen vier aufstrebenden Volkswirtschaften teilzuhaben.

Ende einer längeren Seitwärtsphase?
Die Rückkehr zum Oberwasser

Warum erleben Schwellenländer gerade einen besonderen Aufschwung?

Eine Vielzahl von Faktoren spielt den Schwellenländern derzeit in die Karten: In Phasen, in denen sich die Weltwirtschaft erholt – und es zeichnet sich mit den begonnenen Impfkampagnen für 2021 eine sehr kräftige Erholung im 2. Halbjahr ab – entwickeln sie sich üblicherweise überdurchschnittlich. Hinzu kommt der mittlerweile kräftige Aufschwung etlicher Rohstoffpreise, der den rohstoffexportierenden Ländern (insbesondere den lateinamerikanischen) zu einem Schub verhilft.

Zudem wird die Pandemie in Asien offenbar wesentlich besser bewältigt als in vielen Industrieländern, mit der Folge, dass die dortigen Wirtschaften in weit geringerem Ausmaß unter pandemiebedingten Restriktionen leiden. Obwohl die Konjunktur in den Schwellenländern im Coronajahr 2020 bei weitem nicht so stark wie in den Industrienationen eingebrochen ist, erwarten wir für 2021 nichtsdestotrotz ein überdurchschnittlich hohes Wachstum des Bruttoinlandsprodukts (BIP) in den Emerging Markets.

Schwellenländer weiter mit guten Wachstumsaussichten

Während der Internationale Währungsfonds (IWF) für die Industrieländer ein durchschnittliches Wachstum von 4,3 % in 2021 vorhersagt, liegen die Wachstumserwartungen für die Emerging Markets im Schnitt bei 6,3 %. Die größten Zuwächse werden erneut in Asien (dem Schwergewicht im MSCI Emerging Markets Index) erwartet – angeführt von China und Indien (+8,3 bzw. +11,5 %).

Wachstumsvorsprung der Schwellenländer

Zwar hat die Pandemie auch in den Schwellenländern ihre Spuren in Form höherer Staatsausgaben bei parallel sinkender Wirtschaftsleistung hinterlassen. Doch auch hier grenzen sich die Schwellenländer positiv ab. Nach IWF-Zahlen hat Covid-19 im Jahr 2020 die Staatsverschuldung in den entwickelten Staaten auf 125 % des Bruttoinlandsproduktes (BIP) getrieben – gegenüber 62 % in den Emerging Markets. Ein ähnliches Bild zeigt sich bei Betrachtung der Haushaltsdefizite (durchschnittlich 11 % gegenüber 6 % in den Emerging Markets). Die relativ niedrigere Verschuldung der Schwellenländer bei gleichzeitig höheren Wachstumsprognosen führt dazu, dass sich das Verhältnis „Schulden zu Bruttoinlandsprodukt“ schneller stabilisiert als in den Industriestaaten. Allerdings sind speziell die in China von offizieller Seite veröffentlichten Daten zur Verschuldungslage mit Vorsicht zu genießen – meist sind sie wenig transparent und lassen sich folglich nur schwer auf ihren Wahrheitsgehalt hin überprüfen.

Dabei profitieren viele exportorientierte Volkswirtschaften der asiatischen Region einerseits von der erwarteten Erholung der Nachfrage aus den USA und Europa, andererseits aber auch von der Tatsache, dass sie untereinander immer enger vernetzt sind. Als Beispiel lässt sich Südkorea anführen: 62 % der Exporte der viertgrößten Volkswirtschaft Asiens gehen mittlerweile in andere Schwellenländer – mehr als die Hälfte davon allein nach China und Vietnam. Die USA sind nur noch für 13,5 % der koreanischen Exporte verantwortlich.

Die engere Verflechtung des asiatischen Wirtschaftsraums wurde im November 2020 noch mit der Unterzeichnung der „Regional Comprehensive Economic Partnership“ (kurz: „RCEP“) untermauert, des größten Freihandelsabkommens der Welt, dem sich die zehn ASEAN-Staaten Südostasien, China, Japan, Südkorea, Australien und Neuseeland angeschlossen haben.

Last, but not least: Ein schwächerer Dollar – der jüngst zu beobachten war – ist grundsätzlich positiv für die Schwellenländer, da viele dortige Staaten und Unternehmen ihre Schulden in US-Dollar aufnehmen und eine Abschwächung der US-Valuta ihre Zinslast (umgerechnet in die jeweilige Heimatwährung) mindert.

Zurück zur Eingangsfrage: Strohfeuer oder Beginn eines längerfristigen Aufwärtstrends?

Um die Antwort vorwegzunehmen: Es bestehen u. E. gute Aussichten, dass die derzeitige Outperformance der Emerging Markets auch mittel- bis langfristig Bestand haben könnte. Wenn man sich die Gründe für diese Annahme näher anschaut, muss man den Blick zwangsläufig Richtung Asien lenken – der mit weitem Abstand größten Region im MSCI Emerging Markets Index (Gewichtung rund 80 %). Viele der bereits erwähnten Faktoren, die den Schwellenländern derzeit in die Hände spielen, dürften nicht nur kurzfristiger Natur sein, sondern auch auf längere Sicht positive Wirkungen entfalten.

Hinzu kommen weitere positive Aspekte: Das weltweit größte Schwellenland China hat längst mehr zu bieten als bunte Plastikblumen und kopierte Elektronik. Das Reich der Mitte ist vielmehr zum Technik-Vorreiter, Digitalisierungs-Champion und Pionier in Sachen Elektromobilität aufgestiegen. Mit mehr als 600 Mio. Online-Shoppern sind chinesische Konsumenten heute die wohl begehrteste Verbrauchergruppe der Welt. Nicht mehr lange und die Volksrepublik wird die Weltmacht USA mit ihrer Wirtschaftsleistung überrundet haben, schätzen nicht wenige Ökonomen.

Gleichzeitig ziehen andere Länder nach: Vietnam und Thailand sind längst in den internationalen Wettbewerb eingestiegen, Südkorea gilt als „Entwicklungsstar“ und ist inzwischen die zwölftgrößte Wirtschaftsnation der Welt. Länder wie Malaysia, Indonesien und Indien zählen mit Wirtschaftswachstumsraten von 5 bis 6 % pro Jahr (Corona ausgeklammert) zu den am schnellsten expandierenden Staaten der Welt.

Allen asiatischen Schwellenländern ist gemein: Die Bevölkerung ist meist jung, gut ausgebildet und das Aufholpotenzial der wachsenden (zahlungskräftigen) Mittelschichten ist groß. Des Weiteren hat ein offenkundiger Rollenwechsel stattgefunden: Während der Westen primär den privaten Konsum stimuliert, investieren China, Südkorea, Taiwan oder Singapur in die Infrastruktur von morgen – sprich: in Mobilität, Energie, Wasser, Klimaschutz und Digitalisierung. Vor nicht allzu langer Zeit hätte man wohl das genaue Gegenteil von den zwei Weltregionen erwartet.

Auch wenn der MSCI Emerging Markets Index von der Region Asien klar dominiert wird, wollen wir dennoch kurz einen Blick auf zwei wichtige und große Schwellenländer außerhalb Asiens werfen:







Abschließend noch ein Wort zur fundamentalen Bewertung der Aktienmärkte: Trotz des zuletzt kräftigen Kursanstiegs sind die Schwellenmärkte auf Basis der durchschnittlichen Analysten-Gewinnschätzungen für das laufende Jahr mit einem Kurs-Gewinn-Verhältnis (KGV) von gut 15 immer noch spürbar günstiger bewertet als der MSCI World Index, der auf ein KGV von rund 20 kommt. Letzterer wird verstärkt von den USA und somit auch von den dort ansässigen, relativ weit vorgepreschten Technologieaktien dominiert.

Trotz aller Chancen … Risiken bleiben

Das politische System in der Volksrepublik China basiert auf dem Führungsanspruch der Kommunistischen Partei. Es handelt sich um ein autokratisches Einparteiensystem. Das sozialistische Wirtschaftssystem ist in der chinesischen Verfassung verankert. Nichtsdestotrotz hat das chinesische Regime in den letzten Jahren versucht, kommunistische Politik mit kapitalistischer Wirtschaft zu verknüpfen. Viele Unternehmen aus der Privatwirtschaft können sich in China frei entfalten, sofern sie keinen politischen Einfluss ausüben oder das Regime verärgern.

Wie schnell man es sich mit der politischen Führung verscherzen kann, musste kürzlich der chinesische Internetriese Alibaba schmerzlich erfahren. Weil sein Gründer Jack Ma durch eine nach dem Geschmack der Staatsführung zu forsche Rede in Ungnade gefallen war, sagte die Obrigkeit den bislang weltgrößten Börsengang von Mas Finanzdienstleister Alipay kurzerhand ab und nahm sich sein Lebens­werk Alibaba vor. Diesem wirft der Staat nun monopolistisches Verhalten vor. Ein weiteres Beispiel, das in dieselbe Kerbe schlägt, ist die aktuell verschärfte Zensurregelung für Internet-Blogger. Diese benötigen nunmehr eine von der Regierung ausgestellte Legitimation, wenn sie über ein weitreichendes Spektrum von Themen (z. B. Politik, Militär oder Gesundheit) schreiben wollen. Meinungsfreiheit und China … das passt leider nicht wirklich zusammen – rasantes Wirtschaftswachstum und China schon eher.

Was zudem immer wieder kritisch beäugt wird: Die Verschuldungssituation bei lokalen chinesischen Regionalregierungen und Gebietskörperschaften ist oft sehr undurchsichtig. Hinzu kommt, dass viele Schulden aus dem Unternehmenssektor eigentlich dem Staat zugerechnet werden müssten. Überhaupt ist der Verschuldungsgrad nicht weniger Unternehmen in den letzten Jahren nach Expertenmeinung deutlich angestiegen – seriös überprüfen lässt sich das allerdings nur eingeschränkt. Bis dato hat das an Devisen reiche China das Problem zwar offenbar im Griff, gänzlich ausblenden sollte man dieses Risiko aber nicht.

Weitere Knackpunkte könnten sein: Ein schon länger schwelender Belastungsfaktor – der Handelsstreit – gilt weiterhin als die große Unbekannte. Die USA (vor allem auch unter der neuen Regierung Bidens) und China haben zwar ein gesteigertes wirtschaftliches Interesse daran, den Konflikt nicht gänzlich eskalieren zu lassen, aber ausgemacht ist das noch nicht.

Die Corona-Impfstoffe haben zudem dafür gesorgt, dass Investoren deutlich optimistischer für den weiteren Verlauf der Weltkonjunktur geworden sind. Dadurch hat ihre Risikobereitschaft zugenommen, wovon auch Schwellenländer profitieren. Sollte der Risikoappetit der Investoren – aus welchen Gründen auch immer – wieder nachlassen, könnten infolge eines stärkeren Kapitalabzugs vor allem die Schwellenländerbörsen leiden.

Und naturgemäß könnten sich auch die Schwellenländer einer Verschärfung der Coronakrise nicht entziehen: Die finanziell weniger üppig ausgestatteten Regierungen in den Schwellenländern könnten möglicherweise schon zu früh gezwungen sein, wieder einen fiskalischen Konsolidierungskurs zu fahren, und als Folge die Konjunkturerholung möglicherweise behindern bzw. verzögern.

Eine weitere große Unbekannte ist im Spiel: der US-Dollar. Sollte sich hier der Wind drehen und die US-Währung wieder stärker zulegen, wäre das eine schlechte Nachricht für die Emerging Markets. Die nachfolgende Grafik zeigt beispielhaft die Entwicklung des US-Dollar in Relation zur chinesischen Währung.

Schwächelnder Dollar

Fazit

Nach einer längeren Seitwärtsphase wurden Schwellenländeraktien zuletzt von der Anlegergemeinde zunehmend kritisch hinterfragt. Breit gestreut in Aktien aufstrebender Nationen zu investieren, um ein gut strukturiertes Aktiendepot abzurunden, dürfte sich aber langfristig auszahlen. Das Wachstumspotenzial ist in Schwellenländern höher als anderswo, speziell asiatische Firmen investieren massiv in die Technologien der Zukunft und eine wachsende (zahlungskräftige) Mittelschicht von Verbrauchern entsteht.

Die Kursschwankungen an den Börsen der Schwellenländer fallen allerdings erfahrungsgemäß stärker aus als in den Industrienationen. Deshalb sollten interessierte Anleger zwei Grundvoraussetzungen mitbringen: einen langen Atem … und gute Nerven. Aber beides braucht man in der heutigen Zeit ja sowieso.

Autor: Prof. Dr. Stefan May, Leiter Anlagemanagement der Quirin Privatbank, und sein Team

 

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