An den Kapitalmärkten (und nicht nur dort) geht derzeit das fast schon in Vergessenheit geratene Inflationsgespenst um. Angefacht werden die Befürchtungen durch die jüngsten Teuerungssignale aus den USA, denn dort gab es einen überraschend starken Anstieg der Verbraucherpreise: Sie kletterten im April um 4,2 % – nach einem Plus von 2,6 % im Monat zuvor. Im Vorfeld wurde „nur“ mit einem Preisanstieg um 3,6 % gerechnet. Auch hierzulande stieg die Teuerungsrate zuletzt deutlich – im Mai lag sie (gemäß der vorläufigen Schätzung) mit 2,5 % so hoch wie seit zehn Jahren nicht mehr. Nun herrscht Verunsicherung, denn Investoren befürchten angesichts stark steigender Inflationsraten einen Schwenk der Zentralbanken hin zu einer restriktiveren Geldpolitik (um die Inflationsraten im Zaum zu halten).
In unserem Logbuch vom 12. März dieses Jahres („Inflationsgefahren? Ja, aber anders als vermutet“) haben wir bereits ausführlich dargelegt, warum wir die momentanen Ängste vor kräftig und nachhaltig steigenden Inflationsraten (und in der Folge spürbar anziehenden Anleiherenditen) für übertrieben halten. An dieser Einschätzung halten wir auch im Lichte der jüngsten Entwicklungen fest. Nachfolgend erläutern wir Ihnen die Gründe für unsere unveränderte (Inflations-)Einschätzung.
Zurzeit spielen die Märkte die Inflationskarte
In Erwartung einer kräftigen globalen wirtschaftlichen Erholung nach Eindämmung der Covid-19-Pandemie rechnen nicht wenige Anleger mit einem stärkeren Teuerungsdruck, der wiederum die Zentralbanken auf den Plan rufen könnte. Eine restriktivere Gangart in der Geldpolitik mit steigenden Zinsen wäre ein schlechtes Vorzeichen für die Aktienmärkte, die von der jahrelangen Zufuhr billigen Notenbankgeldes profitierten und einen regelrechten Gipfelsturm erlebten bzw. immer noch erleben.
Die Anleiherenditen würden in diesem Szenario nach langer Durststrecke wieder spürbar steigen, denn um die steigenden Inflationsraten (zumindest teilweise) auszugleichen, verlangen Investoren im Gegenzug höhere Renditen. Folge: Die Refinanzierungskosten der Unternehmen (bei Anleiheemissionen oder Kreditaufnahmen) erhöhen sich und die Anleihe könnte wieder zunehmend als ernstzunehmende Alternative zur Aktienanlage in Betracht kommen.
Teuerungsdruck dürfte kurzfristig anhalten … mittelfristig aber wieder nachlassen
Da im vergangenen Jahr der Lockdown das Preisgefüge mächtig durcheinandergewirbelt hat und viele Produkte günstiger wurden, fällt jetzt im Jahresvergleich die Inflationsrate entsprechend hoch aus. Aufgrund der zunehmenden Wiederöffnung der Wirtschaft dürfte sich der aufgestaute Konsum in den nächsten Wochen und Monaten entladen. So haben die privaten deutschen Haushalte im Krisenjahr 2020 schätzungsweise rund 110 Mrd. Euro mehr gespart als 2019. Schließlich waren Restaurants geschlossen, Konzerte und Festivals wurden abgesagt, Reisen aufgeschoben. Zum Teil werden die Bürger diesen Konsumverzicht demnächst nachholen. Das könnte zu Preissteigerungen führen, wenn die sprunghaft höhere Nachfrage auf ein nur begrenztes Angebot trifft, das sich nicht in der gleichen Geschwindigkeit steigern lässt.
Nach den in vielen Sektoren coronabedingten Preisdämpfern im letzten Jahr gibt es nun aufgrund von Impferfolgen und Lockerungen weitere preistreibende Effekte. Zu nennen sind hier insbesondere höhere Rohstoffpreise (speziell Öl), steigende Frachtkosten, Engpässe in einigen Branchen, z. B. bei Halbleitern und Baumaterialien, aber auch Preissteigerungen im Dienstleistungssektor. All diese Faktoren könnten die Teuerung kurzfristig weiter antreiben. Diese Phase – und das ist der entscheidende Punkt – geht unseres Erachtens aber in ein paar Monaten zu Ende, da sich das Angebot dann an die Wiedereröffnung angepasst haben wird und die Lagerbestände wieder aufgebaut sind.
Ein großer Treiber der Inflation ist der eben genannte Ölpreis – was man an der Zapfsäule unschwer feststellen kann. Das liegt vor allem daran, dass vor einem Jahr die Ölpreise kurzfristig stärker in den Keller gerutscht waren. Damals steckte die Weltwirtschaft wegen der Corona-Pandemie in der Rezession, die Rohölnachfrage ging drastisch zurück. Die jetzt wieder normalisierte Nachfrage führt gegenüber den krisenniedrigen Preisen des letzten Jahres dann zu hohen Teuerungsraten. Hinzu kommt, dass klimaschädliche fossile Brennstoffe seit Jahresbeginn mit 25 Euro pro Tonne CO2 belegt werden, was sie ebenfalls teurer macht.
Der für die Inflationsentwicklung wichtige Ölpreis (mit seinen Auswirkungen auf die Energiepreise) hat auf 12-Monats-Sicht um 80 % zugelegt.
Keine absehbare Steigerung des allgemeinen Preisniveaus
In der aktuellen Inflationsdebatte kommt zudem eine aus unserer Sicht oftmals nicht genügend berücksichtigte Unterscheidung bei Preisanstiegen zum Tragen. Unter Inflation verstehen Ökonomen genau genommen den Anstieg des allgemeinen Preisniveaus im Durchschnitt. Rein mathematisch kann dieser entweder durch
Je stärker nun einzelne Preise – z. B. für Restaurant-/Friseurbesuche, Fahrradkäufe oder Bauholz (um nur einige prominente Beispiele aus der Presse der letzten Wochen herauszugreifen) – übermäßig ansteigen, während das Gros der restlichen Preise mehr oder weniger konstant bleibt, desto mehr sprechen wir von relativen Preisänderungen – also Veränderungen der Verhältnisse der Preise unterschiedlicher Güter und Dienstleistungen untereinander.
Breit angelegte – also mehr oder weniger alle Güter und Dienstleistungen umfassende –inflationäre Entwicklungen sind in der Tat ein gefährliches wirtschaftliches Phänomen. Dadurch verlieren Preissysteme allgemein ihre Aussagekraft – sprich ihre Signalwirkung, die zielführende wirtschaftliche Pläne jedes Einzelnen letztlich erst ermöglicht. Nur auf wenige Güter oder Dienstleistungen entfallende, also im Wesentlichen relative Preisänderungen (die gleichwohl im Durchschnitt ebenfalls die Inflation erhöhen) haben demgegenüber einen ganz anderen Charakter. Sie sind im Grunde ein ganz essenzielles Instrument für die Funktionsweise unserer Marktwirtschaft.
Bleiben wir beim bereits erwähnten Beispiel des Bauholzes. Auch wenn man kein Bauherr ist, liest man allenthalben, dass Bauholz in den letzten Wochen sehr teuer geworden und mittlerweile auch knapp ist. Dieser Preisanstieg wirkt sich zwar auch auf die (Gesamt-)Inflation aus. Vor allem aber ist er einerseits ein Signal an die Verbraucher, Nachfrage nur dann in Form von Käufen umzusetzen, wenn sie wirklich unabdingbar ist (der hohe Preis ist hier nachteilig), und andererseits an die Produzenten, möglichst viel zu produzieren (der hohe Preis ist hier vorteilhaft). Derartige Preisanstiege haben also die unabdingbare Funktion, Märkte, die (z. B. aufgrund der wilden Corona-Achterbahnfahrt) aus den Fugen geraten sind, wieder ins Gleichgewicht zu bringen – in unserem Beispiel sinkt durch den Preisanstieg die Nachfrage und das Angebot steigt, die Preise sinken, der Markt normalisiert sich. Solange also die Inflation im Wesentlichen von Letzterem getrieben wird (und das ist im Moment nach wie vor der Fall), ist sie – zumindest vorübergehend – sogar zu begrüßen und nicht pauschal zu verdammen.
Die bereits erwähnten Nachholkäufe vieler Konsumenten dürften den Preisauftrieb dann auch nicht auf Dauer befeuern, da sie zeitlich (Beispiel Tourismus) und auch aufgrund der Konstellation (Beispiel Bauholz) nach begrenzt sind. Ob die Inflation tatsächlich dauerhaft anzieht, hängt nach unserer Einschätzung vor allem von einem der wichtigsten Kostentreiber, dem Lohndruck, ab. Dieser würde dann tatsächlich die Gefahr bergen, dass das Preisniveau in Gänze steigt. Allerdings würde der Lohndruck wegen der immer noch relativ hohen Arbeitslosigkeit nur moderat ausfallen (und dürfte das auch weiterhin tun).
Hinzu kommt: In vielen Ländern sind Termine für Insolvenzanmeldungen verschoben und teils marode Firmen mit Hilfsgeldern am Leben erhalten worden, was den Lockdowns geschuldet war bzw. immer noch ist. Doch in nicht allzu ferner Zukunft fallen diese Hilfsmaßnahmen weg. Dann vom Markt verschwindende Firmen könnten erhebliche Nachfrageausfälle bei Investitionsgütern, freigesetzte Arbeitnehmer und dadurch wiederum Konsumrückgänge nach sich ziehen – all das würde sich dann wiederum dämpfend auf die Inflation auswirken.
Viele im Augenblick inflationssteigernde Effekte dürften folglich nur einmaliger Natur sein und eben nicht dauerhaft. Überdies muss sich erst noch herausstellen, wie nachhaltig das Wachstum aufgrund von nachgeholtem Konsum und Investitionsausgabensteigerung tatsächlich ausfallen wird. Die Verunsicherung ist immer noch recht hoch und viele am Wirtschaftskreislauf Beteiligte könnten mit ihren Ausgaben weiterhin zögerlich umgehen.
Und was machen die Notenbanken?
Auch die Währungshüter sind der Ansicht, dass die Preise nur zeitweilig stärker aufflammen werden – in Deutschland in der Spitze kurzzeitig bis vielleicht sogar 4 %. Die Notenbanker bewahren in Sachen Inflation daher Ruhe und argumentieren wie folgt: Die meisten Volkswirtschaften seien noch weit von der Vollbeschäftigung entfernt. Trotz der einsetzenden Konjunkturerholung fehlten in den USA im April rund 10 Mio. Arbeitsplätze. Im Euro-Raum liege die Beschäftigungsquote immer noch weit unter dem Niveau von vor der Krise.
Nach einer Inflationsrate im Euro-Raum von durchschnittlich 0,3 % in 2020 rechnet die EZB für die kommenden Jahre mit folgenden Teuerungsraten: 2021: 1,5 % (in der Spitze 2 % im 4. Quartal), 2022: 1,2 % und 2023: 1,4 %. Die Währungshüter würden somit weiterhin für Jahre ihr selbst gestecktes Inflationsziel von knapp unter zwei Prozent verfehlen, das sie für die Wirtschaft mittelfristig als optimal erachten. Diese Marke erreichen sie bereits seit Jahren nicht.
Die Notenbanker der EZB dürften somit vermutlich eher froh darüber sein, wenn sich die aktuelle Preissteigerungsrate endlich mal wieder in Richtung des lange nicht gesehenen Zielwertes von rund 2 % bewegt und vielleicht auch kurzfristig darüber hinausschießt. Da wird Zentralbank-Chefin Lagarde gern abwarten und nicht gleich über Zinssteigerungen die begonnene Konjunkturerholung wieder abwürgen wollen. Vor diesem Hintergrund erwarten wir keine vorzeitige geldpolitische Straffung durch die Europäische Zentralbank, auch im Falle von in den nächsten Monaten erst einmal möglicherweise weiter steigenden Inflationsraten.
Angesichts des kräftigen Aufschwungs nach der Coronakrise zeichnet sich demgegenüber in der US-Notenbank Fed allerdings tatsächlich eine erste vorsichtige Debatte über das sog. „Tapering“ ab, also über die Reduktion der Anleihekäufe. Eine Reihe von Währungshütern denkt darüber bereits laut nach, wie aus den veröffentlichten Protokollen der US-Zinssitzung vom April hervorgeht. Wenn die Konjunkturerholung weiter rasche Fortschritte mache, könnte es nach Ansicht der Notenbanker auf einer der nächsten Sitzungen „angemessen“ sein, über einen Plan zur Anpassung des Tempos bei den Anleihekäufen zu sprechen.
Doch signalisieren die US-Währungshüter auch, dass auf die Diskussion keinesfalls zeitnah mit konkreten Schritten zum Abschmelzen der Anleihekäufe zu rechnen ist. Die US-Notenbank unterstützt die von der Coronakrise getroffene Wirtschaft mit monatlichen Geldspritzen von 120 Mrd. US-Dollar in Form von Anleihekäufen. Sie will daran so lange festhalten, bis substanzielle Fortschritte vor allem bei der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit erreicht sind. Dies ist auf absehbare Zeit – zumindest Stand heute – nicht der Fall.
Somit bleibt als Fazit festzuhalten: Ja, das Inflationsgespenst ist zurück. Zum einen brauchen wir es derzeit aber, um den Wirtschaftsprozess auf die Nachkrisenzeit zu „eichen“. Zum anderen dürfte dieses Gespenst unseres Erachtens nicht allzu lange bleiben.
Grundsätzlich gilt: Mit einem weltweit breit gestreuten Depot aus Aktien können Anleger einer Inflation relativ gelassen entgegensehen. Über die Beteiligung an Unternehmen könnten Anleger schließlich von anziehenden Preisen, die die Firmengewinne steigen lassen, sogar profitieren.
Autor: Prof. Dr. Stefan May, Leiter Anlagemanagement der Quirin Privatbank, und sein Team
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