Die Tage des freien Welthandels scheinen vorbei, Nationalismus und Protektionismus sind zurück. So kommt es mir zumindest immer öfters vor, zuletzt beispielsweise, als ich die Rede der EU-Präsidentin Ursula von der Leyen verfolgt habe: Demnach fluten billige chinesische Elektroautos derzeit den europäischen Markt. Aufgrund der enormen staatlichen Subventionen können chinesische Automobilhersteller ihre Modelle im europäischen Markt deutlich günstiger anbieten als die heimischen Anbieter und bringen diese damit in die Bredouille. Es besteht die Gefahr, dass deutsche und europäische Hersteller vom Markt gedrängt werden, wie wir es vor einigen Jahren in der Solartechnik erlebt haben. Das will die EU verhindern: Man habe nicht vergessen, „wie sich Chinas unfaire Handelspraktiken auf unsere Solarindustrie ausgewirkt haben“, erklärt die EU-Präsidentin dazu. Das solle sich bei der Elektromobilität keinesfalls wiederholen. Sie werde deshalb eine „Antisubventionsuntersuchung“ einleiten.
Zunächst einmal hört sich das ja recht vernünftig an. Wenn China mit Subventionen den Wettbewerb verzerrt, dann scheint es absolut geboten, hierauf auch zu reagieren. Immerhin sollen so die einheimischen Hersteller und der europäische Markt geschützt werden. Bei genauerer Betrachtung kann eine solche „Wie du mir, so ich dir“-Spirale schwerwiegende Folgen für die gesamte Weltwirtschaft haben. Eine konkrete Maßnahme infolge dieser Untersuchung könnten beispielsweise Strafzölle sein. Genügend breit angelegt könnte dadurch der freie Welthandel, der vor allem auch Deutschland in der Nachkriegszeit zu einem schnellen wirtschaftlichen Aufstieg verholfen hat, empfindlich beschnitten werden. Und das hätte enorme Folgen für alle Beteiligten.
Dabei ist die EU nicht der erste und einzige politische Akteur, der versucht, die heimischen Märkte vor den Herausforderungen eines globalisierten freien Handels zu schützen. Vielmehr häufen sich entsprechende Maßnahmen zusehends: Eingeläutet von „America First“, ausgeweitet durch die „wertegebundene Außenpolitik“ Deutschlands und verschärft durch die Anti-China-Politik der EU-Kommission, scheinen die Tage des freien Welthandels gezählt. Es wird nicht mehr in Angebot und Nachfrage gedacht, sondern in politischen Territorien, militärischen Machtambitionen und nationalen Wirtschaftsinteressen.
Ich persönlich halte das für eine äußerst bedenkliche Entwicklung. Warum, das möchte ich Ihnen gerne anhand von drei Beispielen zeigen: anhand der deutschen Abhängigkeit von chinesischen Rohstoffen, anhand der Entwicklung des Ölpreises und anhand der nationalistischen Bestrebungen der USA, die die wirtschaftlichen Interessen des Landes an erste Stelle setzen.
Die deutsche Abhängigkeit von Rohstoffen aus China
Die protektionistischen Bestrebungen der EU-Kommission – beispielsweise in Form von Strafzöllen – würden die gesamte Wirtschaft in der EU treffen. Denn bei einem europäischen Strafzoll auf chinesische E-Autos ist damit zu rechnen, dass im Umkehrschluss China den Außenhandel mit denjenigen Gütern beschränkt, die in der EU besonders benötigt werden. Davon wäre eine Vielzahl europäischer Unternehmen erheblich betroffen, denn wir – also die EU – beziehen mittlerweile enorm viele Rohstoffe aus China, wie die nachfolgende Grafik zeigt.
Diese Rohstoffe könnten – bei harten Zollauseinandersetzungen mit China – nicht ohne Weiteres anderweitig bezogen werden. Das IfW Kiel schrieb dazu unmissverständlich: „Sollte die EU chinesische Importe boykottieren, stünden dafür (Anmerkung der Redaktion: für diese Rohstoffimporte) praktisch keine alternativen Zulieferer zur Verfügung.“ [1]
Wegfall von Handelspartnern kann zu Preisexplosion bei Rohstoffen führen
Was das für Auswirkungen haben kann, konnten wir mit Beginn des Angriffskrieges Russlands gegen die Ukraine erleben. Der Wegfall Russlands als Handelspartner hat zu einer enormen Verteuerung der Energie in Deutschland geführt. Infolgedessen muss beispielsweise Öl jetzt anderweitig eingekauft werden, der Ölpreis ist aufgrund dieses Engpasses enorm gestiegen. Der Hintergrund ist hier natürlich ein ganz anderer als bei der aktuellen Handelsstreitigkeit mit China. Das Beispiel zeigt aber deutlich, dass es sich die EU nicht ohne erhebliche wirtschaftliche Auswirkungen leisten kann, wichtige Handelspartner zu verlieren oder diese Beziehungen durch Strafzölle zu belasten.
„America First“ bremst weltweiten Handel aus
Auch die USA sind ein wichtiger Handelspartner für europäische und vor allem deutsche Exporte. Doch auch hier gilt mehr und mehr die Devise: America First. Die Herstellung zahlreicher Produkte und die damit verbunden Industriejobs, die im Laufe der verschiedenen Globalisierungswellen in andere Länder ausgelagert wurden, sollen nun wieder in US-Gefilde geholt werden. So sind die Deutschen auch hier nach und nach eher als Investoren, nicht aber als Importeure willkommen.
Hängen nur wir von der Gunst anderer ab?
Wenn man sich diese beschriebenen Entwicklungen vor Augen führt, kann schnell der Eindruck entstehen, dass Deutschland beziehungsweise die EU sehr abhängig von anderen Staaten ist, diese aber wiederum gar nicht so abhängig von uns sind und lieber ihr eigenes Süppchen kochen. Doch das täuscht: Keine Nation kann es sich heute wirklich leisten, globale Handelspartner zu verprellen. Das zeigt exemplarisch auch eine Studie von McKinsey, die zwar vor dem Ausbruch der Corona-Pandemie und des Krieges in der Ukraine durchgeführt wurde, deren Kernergebnisse aber grundsätzlicher Natur sind.[2] Demnach importieren – wie die nachfolgende Grafik zeigt – alle betrachteten Regionen weltweit mindestens 25 Prozent ihres Bedarfs an einer oder mehreren wichtigen Ressourcen oder Waren. Oft ist es sogar noch deutlich mehr. Oder anders ausgedrückt: Es gibt keine Region, die wirtschaftlich autark ist und völlig losgelöst von anderen Wirtschaftspartnern agieren kann.
Welche Folgen hätte eine Zollspirale?
Doch was bedeutet es nun, wenn wir uns in dieser unserer globalisierten Welt, in der so viele Wirtschaftsprozesse miteinander verzahnt sind, mehr und mehr vom freien Welthandel abwenden, wenn wir versuchen, mit Strafzöllen und Co. in das Spiel von Angebot, Nachfrage und Preis einzugreifen? Fakt ist: Ein eingeschränkter Welthandel würde uns alle miteinander vor allem eines kosten: Wohlstand. Produkte würden sich verteuern, würden knapper, weniger Wettbewerb würde Innovationen verlangsamen, die Produkte würden also auch noch schlechter. Eine Spirale aus Zöllen und Gegenzöllen hat kurzfristig also zwar den gewünschten „schützenden“ Effekt, richtet langfristig aber enormen Schaden für alle Beteiligten an. An einem solchen Handelskrieg kann niemand ein Interesse haben. So warnte neulich auch BDI-Präsident Dieter Kempf: „Protektionismus schadet allen. Der Welthandel ist kein Nullsummenspiel, bei dem einer gewinnt und der andere verliert.“[3]
Die Folgen von Strafzöllen aus Anlegersicht
In unserem Kreis drängt sich natürlich daneben noch die Frage auf: Was würde ein „Zurück zum Protektionismus“ aus Sicht von Anlegerinnen und Anlegern bedeuten? Immerhin setzen gerade wir als Haus in den Aktiendepots unserer Kunden auf eine international möglichst breite weltweite Streuung und damit auf die wirtschaftliche Ertragskraft einer globalisierten Welt.
Ich persönlich glaube nicht, dass es tatsächlich zu einer echten und weitgreifenden Abkehr vom freien Welthandel kommen wird. Sollte tatsächlich solch ein Szenario eintreten, dann hätte das spürbare Folgen auch für die Renditen unserer Kundenportfolios. Schlussendlich würde ein Mehr an Protektionismus ein Weniger an Aktienmarktrendite bedeuten – auch deshalb ist er ein ernstzunehmendes Thema.
Ende gut, alles gut?
Wieso glaube ich aber, dass uns der freie Welthandel im Großen und Ganzen erhalten bleiben wird? Weil alle Beteiligten, ob in China, Europa oder den USA, um die Folgen einer Abkehr vom freien Welthandel wissen. Ihnen ist bewusst, was mögliche Zollspiralen und ggf. sogar Wirtschaftskriege letztlich an Wohlstandsverlusten und damit auch gesellschaftlichen Herausforderungen bedeuten, und wollen sie daher vermeiden. Das heißt für die Praxis: Bitte alle politischen Entscheidungsträger tief durchatmen, sich einmal an die eigene Nase fassen und sich in Erinnerung rufen, welche Wohlfahrtsverluste eine Spirale aus Zöllen und Gegenzöllen für alle Beteiligten mit sich bringen würde. Und dann auf allen Seiten die richtigen Entscheidungen treffen – für einen freien Welthandel. Ich bin zuversichtlich, dass die Vernunft letztlich siegen wird.
Autor: Karl Matthäus Schmidt, Vorstandsvorsitzender der Quirin Privatbank und Gründer von quirion
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