„Wir wollen mehr Demokratie wagen.“ Das ist sicher eines der berühmtesten Zitate Willy Brandts. Es kam mir in den Sinn, als ich mich mit dieser Ausgabe meines Tagebuchs beschäftigte. Der Satz fiel in einer Sitzung des Bundestags im Oktober 1969. Damals war ich neun Monate alt, kann also nicht glaubhaft versichern, bereits damals den Worten Brandts andächtig gelauscht zu haben. Zum Glück ist aber auch 1969 (teilweise) nur wenige Mausklicks entfernt und die komplette Rede im Internet zu finden. In der damaligen Regierungserklärung sprach Brandt von mehr Mitbestimmung, aber auch mehr Mitverantwortung in verschiedenen Bereichen der Gesellschaft. Es ging um die Herabsetzung des Wahlalters um drei Jahre auf 18 Jahre, um die Liberalisierung des Welthandels, das innerdeutsche Verhältnis von BRD und DDR, um Steuern, Finanzen und vieles mehr. So, wie man es aus Regierungserklärungen kennt. Besonders aufmerksam habe ich die Teile gelesen, in denen der Sozialdemokrat Brandt sich zur Rolle der Wirtschaft und des Marktes äußerte – denn damit bin ich beim heutigen Thema. Beeindruckt hat mich folgende Passage seiner Rede. Sie ist zwar etwas länger als das griffige Demokratie-Zitat, ich möchte sie hier aber trotzdem komplett wiedergeben:
„Eine stetige Wirtschaftsentwicklung ist die beste Grundlage des gesellschaftlichen Fortschritts. Sie schafft das Klima, in dem sich private Initiative, Risikobereitschaft und Leistungsfähigkeit entfalten können. Sie sichert die Arbeitsplätze, schützt die steigenden Einkommen und wachsenden Ersparnisse vor der Auszehrung durch Preissteigerungen.
Auf Dauer können Stabilität und Wachstum nur in einer funktionsfähigen marktwirtschaftlichen Ordnung erreicht werden. Ein wirksamer Wettbewerb nach innen und nach außen ist und bleibt die sicherste Gewähr für die Leistungskraft einer Volkswirtschaft. Allen protektionistischen Neigungen im In- und Ausland erteilen wir eine klare Absage.“
Wow – was für ein Plädoyer für die (soziale) Marktwirtschaft. Hätte ich Ihnen nicht vorab verraten, dass Willy Brandt es gehalten hat, wären Sie dann verwundert, wenn ich behaupten würde, es käme aus Reihen der FDP? Vermutlich nicht.
Natürlich ist mir klar, dass die politische und wirtschaftliche Situation damals nicht eins zu eins mit der Lage von 2021, also 52 Jahre später, vergleichbar ist. Das Zitat steht also historisch in einem anderen Kontext. Nichtsdestotrotz ist es für mich aktueller denn je. Denn ich finde, wir müssen „mehr Markt wagen“.
Insbesondere in meiner Wahlheimat Berlin beobachte ich seit geraumer Zeit, dass Marktmechanismen zunehmend außer Kraft gesetzt werden sollen. Aber auch in anderen Teilen Deutschlands fänden sich sicher entsprechende Beispiele. Den Höhepunkt erlebten wir Ende September – und da beziehe ich mich explizit nicht auf die Bundestagswahl. Das Ereignis, das ich meine, steht eigentlich für pure Basisdemokratie. In Berlin wurde nämlich per Volksentscheid gefragt, ob große privatwirtschaftliche Wohnungsunternehmen enteignet bzw. ob der Senat mit der Ausarbeitung eines entsprechenden Gesetzes beauftragt werden soll. Das Ergebnis hat mich wirklich erschreckt:
Mehr Demokratie, aber weniger Markt – so könnte man das Resultat auch beschreiben. Ich halte das für einen grundverkehrten Weg. Denn ich bin sicher, dass beides im Einklang am besten funktioniert.
Und dabei sage ich ganz klar, dass ich es für gesellschaftlich kritisch halte, wenn sich nur noch Menschen, die überdurchschnittlich gut verdienen, Wohnungen in deutschen Großstädten leisten können. Alle anderen müssen dann in die Städte pendeln, um die Besserverdienenden zu pflegen, im Supermarkt zu bedienen oder ihnen die Haare zu schneiden. Das birgt sozialen Sprengstoff.
In der „Diagnose“ unterscheiden sich Enteignungsbefürworter und -gegner also vermutlich gar nicht so sehr. Der Unterschied liegt in den favorisierten Lösungen. Und hier kommt wieder der Markt ins Spiel. Wenn die Nachfrage nach Wohnungen zu groß und das Angebot zu knapp ist, müssen mehr Wohnungen gebaut werden und nicht die Eigentümer der bestehenden Wohnungen wechseln. Zumal die Kosten eines solchen Wechsels zwischen zehn und 40 Milliarden Euro liegen könnten – je nachdem, ob Befürworter oder Gegner gefragt werden. Berlin müsste also bis zu 40 Milliarden Euro ausgeben und hätte hinterher nochmal wie viele neue Wohnungen? Ah ja, genau: keine.
Aber trotzdem spielen Politik und Verwaltung eine wichtige Rolle bei der Problemlösung. Sie müssen beispielsweise mehr in den sozialen Wohnungsbau investieren und allgemein mehr Baugenehmigungen für Wohnungen erteilen. Dabei könnte man sich am Hamburger Modell orientieren. Dort müssen Baugenehmigungen für Mietwohnungen innerhalb von sechs Monaten erteilt werden und es gibt Quoten für den geförderten Wohnungsbau. Deutschlandweit zeigt die Entwicklung seit der Wiedervereinigung allerdings, dass der wachsende Zuzug in die Städte nicht zu einem deutlichen Anstieg der Baugenehmigungen geführt hat – das gilt auch und besonders für Berlin.
Und ob der Staat der bessere (Immobilien-)Unternehmer wäre, ist aus meiner Sicht ebenfalls fraglich. Erst Anfang der Nullerjahre hatte der Berliner Senat 65.000 Wohnungen für einen vergleichsweise niedrigen Preis an die Unternehmen verkauft, die jetzt enteignet werden sollen. Knapp 15.000 davon wurden gerade für fast 2,5 Milliarden Euro zurückgekauft. 2,5 Milliarden, für die noch mal wie viele neue Wohnungen entstehen? Aber ich wiederhole mich … Klaus Wowereit, damals regierender Bürgermeister, wird im „Tagesspiegel“ dazu übrigens mit folgenden Worten zitiert: „… dass es so viel Zuzug nach Berlin geben wird, war damals nicht abzusehen.“ Das haben die kaufenden Unternehmen anscheinend anders gesehen – und lagen damit richtig.
In der jüngeren Vergangenheit gab es schon einmal ein „beeindruckendes“ Beispiel, was passieren kann, wenn der Staat sich als Unternehmer versucht: Da glaubte die Politik nämlich, sie könne viel besser als andere – und dazu noch günstiger (!) – einen Flughafen bauen. Interessanterweise ebenfalls in Berlin. Über das Ergebnis lachte die ganze Welt: Kosten, die sich auf rund sechs Milliarden Euro mehr als verdoppelten, und eine Bauzeit bis zur Eröffnung von 14 statt wie ursprünglich geplant fünf Jahren.
In der Hauptstadt liegen die abschreckenden Beispiel also direkt vor der Haustür. Und deshalb würde ich angesichts der bevorstehenden Koalitionsgespräche den beteiligten Parteien gerne in ihr Pflichtenheft schreiben: Bitte wagt mehr Markt und (etwas) weniger Staat – zum Wohle der Menschen. Ein guter Anfang wäre doch damit gemacht, wenn wir auch in der gesetzlichen Rente eine kapitalmarktbasierte Komponente bekämen. Ideen dazu liegen ja bereits auf dem Tisch. Bei der Quirin Privatbank setzen wir übrigens seit genau zehn Jahren auf den Markt – mit unserer gleichnamigen Vermögensverwaltung. Mit ihr bieten wir eine Lösung für alle Anlegerinnen und Anleger, die auch privat vorsorgen möchten. Unser Ziel dort ist, die Marktrendite auch in die Kundendepots zu bringen, was uns in diesen zehn Jahren übrigens sehr gut gelungen ist.
Also, liebe Politik: Traut euch und wagt mehr Markt – die Demokratie ginge davon ganz sicher nicht unter. Und das ist auch gut so.
Autor: Karl Matthäus Schmidt, Vorstandsvorsitzender der Quirin Privatbank und Gründer von quirion
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