Neulich stand ich in einem unserer Meetingräume in der 7. Etage und blickte hinunter auf den Kurfürstendamm. Dabei hatte ich – tatsächlich zum ersten Mal in meinem Leben – das Gefühl: Ich bekomme langsam, aber sicher Höhenangst. Scheinbar eine Sache des Alters, zumindest bei mir, früher hat mir Höhe nie etwas ausgemacht. Nun, es gibt Schlimmeres.
Eine ganz andere Art von Höhenangst ist in regelmäßigen Abständen medial zu beobachten. Nämlich immer dann, wenn die Börsen sich auf Höchstkurse zubewegen, wie wir es in den vergangenen Wochen erlebt haben. So notierte der Dax im Verlauf des 2. April bei 18.567 Punkten, der S&P 500 erklomm kürzlich die Marke von 5.264 Punkten und der japanische Nikkei stieg zuletzt auf 41.087 Punkte. Und all diese Indexstände sind Allzeithochs.
In der medialen Berichterstattung werden solche Börsenhochs oft recht ausführlich beleuchtet und kommentiert. Auf vielen Finanz- und Wirtschaftsseiten schwingt dabei gerne ein Unterton mit – mal mehr, mal weniger offensiv –, der mir persönlich überhaupt nicht gefällt. Nicht selten wird im Zusammenhang mit Börsenhöchstständen eine Angst geschürt, die Anlegerinnen und Anleger ohnehin – sozusagen von Haus aus – in sich tragen: die Angst vor dem nächsten Kurseinbruch. Suggeriert wird dabei oft: Solche Hochphasen können ja nicht ewig anhalten, ein großer Crash wird den frohen Kursaufschwung sicher bald beenden und die Aktienkurse wieder auf ein „normales“ Maß fallen lassen.
Kann ich jetzt noch investieren?
Es ist die Stunde der Crash-Prophetinnen und -Propheten. Sie tun so, als seien Höchststände an den Börsen äußerst bedenklich, als gehe mit ihnen zwangsläufig immer ein Unheil einher – das Unheil des wahrscheinlich unmittelbar bevorstehenden Börseneinbruchs, was den Verlust des eigenen angelegten Geldes bedeuten würde. Eng damit verbunden ist die mehr oder minder explizit formulierte Botschaft an Anlegerinnen und Anleger, jetzt genau zu überlegen, wie sie mit diesen Börsenhöchstständen umgehen wollen. Fragen wie
- Sollten Anlegerinnen und Anleger bei diesen Höchstständen überhaupt noch investieren?
- Sollten Anlegerinnen und Anleger jetzt nicht lieber aussteigen, um die bis dato erzielten Kursgewinne zu sichern und die eigenen Schäfchen ins Trockene zu bringen?
stehen dann immer wieder im Raum. Das ist fatal, denn diese Fragen basieren auf der Grundannahme, dass die Märkte nach jedem Hoch wieder auf ein „normales“ Maß fallen müssten. Und diese Annahme ist so falsch, wie sie es nur sein kann.
Die Märkte steigen langfristig immer
Genau das Gegenteil ist richtig: Es gibt kein normales Maß, keinen Nullpunkt oder irgendwie andersartig definierten Anfang, auf den die Märkte zurückgesetzt werden müssten. Vielmehr steigen die Märkte immer, zumindest langfristig betrachtet – wenngleich phasenweise unter starken Schwankungen. Aktien sind Anteile an Unternehmen, Aktienbesitzerinnen und -besitzer sind Teilhaber des Unternehmens und Aktienbesitz bedeutet demnach die Teilhabe am unternehmerischen Produktivkapitel. Und das wiederum wird mit einer nennenswerten Risikoprämie gegenüber dem risikolosen Zins entlohnt, sofern eine möglichst breite Streuung über verschiedenste Länder und Branchen hinweg erfolgt. Die damit verbundene Aktienrendite – rund 7 % im langfristigen Mittel sind ein realistischer Erwartungswert – ist also eine systematische Entlohnung für das Eingehen eines unternehmerischen Risikos. Man kann sie aber eben auch nur dann vereinnahmen, wenn man bereit ist, die zum Teil extremen Marktschwankungen auszuhalten, wie wir sie beispielsweise 2020 und 2022 erlebt haben. Langfristige Kursanstiege sind also der Normalzustand, sie sind sozusagen vorprogrammiert.
Es wird immer wieder neue Höchststände geben
Das heißt: Es wird immer und immer wieder neue Kurshöchststände geben, das liegt in der Natur der Sache, denn letztlich folgen breit gestreute Aktieninvestments (als Produktivkapital) dem Wirtschaftswachstum. Dass es immer wieder zu neuen Höchstständen kommt – und das oft schneller, als man denkt –, belegt auch eine Langzeituntersuchung des S&P 500[1]. Demnach gab es seit 1970 knapp 1.000 (!) neue Allzeithochs (gerechnet auf Basis von Tagesschlusskursen) – im Durchschnitt also rund 17 pro Jahr. Durchschnittlich bedeutet, dass die Allzeithochs im Zeitverlauf natürlich nicht gleichmäßig verteilt waren. Es gab auch längere Phasen ohne neues Allzeithoch, vor allem in den 1970er- und 2000er-Jahren. Dennoch finde ich die schiere Anzahl der Allzeithochs sehr beeindruckend und sie belegt, dass Höchstkurse absolut keine Ausnahmeerscheinungen sind, sondern immer wieder auftreten.
Und die Renditen, die in den 12, 36 und 60 Monaten nach diesen Höchstständen (im Durchschnitt gerechnet) erzielt wurden, waren top, wie die nachfolgende Grafik zeigt. Nach vielen Höchstständen ging es also nicht nach unten, wie die Crash-Propheten es immer suggerieren, sondern Anlegerinnen und Anleger konnten sich häufig über attraktive Renditen freuen[2].
Dass es immer wieder neue Höchststände gibt, teils auch unter sehr widrigen Umständen, zeigt auch der kurzfristigere Blick in den deutschen Rückspiegel: Dieselben Fragen, die Medien und Anlegende sich aktuell stellen – „Kann ich bei einem Dax-Stand von 18.000 noch einsteigen?“ –, haben wir uns vor drei Jahren auch gestellt – bei einem Dax-Stand von 15.000 Punkten. Und vor zehn Jahren, als der Dax bei 10.000 Punkten notierte. Und wir werden sie uns in drei, fünf oder zehn Jahren wahrscheinlich immer noch stellen – immer mit derselben Antwort: Es ist immer der richtige Zeitpunkt, anzulegen – wenn Risikotragfähigkeit und Laufzeit zum Anleger oder zur Anlegerin passen.
Rücksetzer gehören dazu
Und dennoch ist ein Punkt wichtig, auch wenn ich mich an dieser Stelle wiederhole: Natürlich gibt es dabei Rücksetzer, manchmal auch überaus kräftige, das haben die letzten Jahre eindrucksvoll gezeigt. Der springende Punkt ist aber: Das ist gar nicht schlimm, wenn Sie als Anlegerin oder Anleger langfristig orientiert und richtig aufgestellt sind. Denn Rücksetzer ändern nichts daran, dass die Märkte sich langfristig nach oben entwickeln.
Der Wiedereinstieg ist das Problem
Das Problem an der Empfehlung der Crash-Propheten ist Folgendes. Sie raten dazu: „Tue etwas. Bald kracht es. Sei aktiv, warte nicht ab.“ Übersetzt heißt das, Anlegerinnen und Anleger sollen aus den Märkten aussteigen, um die Talfahrt der Aktienmärkte gezielt auszulassen. Um dann in besseren Börsenphasen wieder einzusteigen. Das bringt zwei Probleme mit sich, denn ich muss als Anlegerin oder Anleger gleich zwei Entscheidungen fällen: nämlich die, wann ich aussteige aus den angeblich bald kollabierenden Märkten, und die, wann ich wieder einsteige. Und das Ganze lohnt sich nur dann, wenn ich beide Zeitpunkte zumindest einigermaßen treffe.
Die schwierigere von beiden Entscheidungen ist nicht die des Ausstieges, sondern die des Wiedereinstieges. Die Gefahr ist überdurchschnittlich hoch, dass ich den Einstieg verpasse („Jetzt ist es schon wieder zu teuer zum Einsteigen!“) und die Kursanstiege verpasse, die – oft plötzlich und dynamischer als erwartet – auf jeden Absturz folgen. Ich stehe an der Seitenlinie und kann nur zusehen, und mit jedem weiteren Tag, der vergeht, wird die Entscheidung schwieriger. Das ist die größte Schwierigkeit von allen: den Wiedereinstieg zu finden. Das belegen einschlägige Untersuchungen immer wieder – und das ist meine ganz persönliche Erfahrung aus mehr als 30 Jahren Kapitalmarkt.
Oft kritisiere ich hier im Tagebuch den einen oder anderen Aspekt der medialen Berichterstattung – umso erfreulicher finde ich es, wenn ich Zeilen wie diese lese: „Den Markt zu timen, also gezielt bei niedrigen Kursen ein- und bei hohen Kursen auszusteigen, geht in der Regel schief. Studien dazu gibt es zuhauf. Was schon Profis längst nicht immer gelingt, ist für Privatanleger pures Glücksspiel. Die Datenlage ist klar: Langfristig und breit über Länder und Branchen gestreut zu investieren, liefert im Schnitt deutlich bessere Ergebnisse als wildes Traden“[3], schrieb erst kürzlich die WiWo. „Wer sich aus guten Gründen gegen Markttiming entschieden hat – weil es nämlich nicht funktioniert –, der sollte jetzt nicht damit anfangen. Und die Meldung über das nächste Rekordhoch im Dax einfach wegklicken.“
Deshalb lassen Sie sich nicht verrückt machen – Börsenhöchststände sind völlig normal und gerade kein Grund, nervös zu werden, im Gegenteil. Bleiben Sie investiert durch alle Höhen und Tiefen hinweg, damit fahren Sie langfristig deutlich besser als mit dem Versuch, den richtigen Aus- und Wiedereinstieg in die Märkte zu finden. Denn es gilt in allen Börsenzeiten eines unverändert: Zeitraum schlägt Zeitpunkt – entscheidend ist nicht, wann Anlegerinnen und Anleger in die Märkte einsteigen, sondern wie lange sie investiert bleiben. Auch wenn es immer wieder mal ruckelt an den Märkten – davon muss einem nicht schwindelig werden, im Gegensatz zur echten Höhenangst.
Autor: Karl Matthäus Schmidt, Vorstandsvorsitzender der Quirin Privatbank und Gründer von quirion
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[1] Wir haben den S&P 500 Index analysiert, weil für ihn die längsten täglichen Kurszeitreihen verfügbar sind. Ein alleiniges Investment in amerikanische Aktien ist aus Risikogründen aber nicht zu empfehlen. Zur unter Risikoaspekten optimalen Vereinnahmung der Aktienmarktrenditen dient am besten eine international möglichst breit gestreute Aktienanlage.
[2] In einzelnen Zeiträumen kam es nach Allzeithochs auch zu sehr negativen Entwicklungen (Worst Case: -42,55 % ein Jahr nach Allzeithoch). Insgesamt überwiegen aber die positiven Entwicklungen nach Allzeithochs deutlich.
[3] Dax erklimmt neue Rekorde: Droht jetzt der Börsencrash? Und wenn schon! - wiwo
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