So oft es möglich ist, bin ich auf Veranstaltungen unterwegs, auf unseren hauseigenen, die wir für Kundinnen und Kunden sowie für Anlegerinnen und Anleger organisieren, die uns kennenlernen wollen. Und natürlich auch auf externen Konferenzen, Podiumsdiskussionen und ähnlichen Veranstaltungen. In den Gesprächen, die ich da führe, kommt immer mal wieder eine bestimmte Fragestellung auf, wenn es um die (deutsche) Wirtschaft, ihre Wachstumspotenziale, ihre Zukunftsfähigkeit geht. Es ist die Frage oder manchmal auch die Aussage, die Wirtschaft könne doch nicht ewig weiterwachsen, das sei doch gar nicht möglich, wo solle das hinführen, gerade mit Blick auf die ökologischen Folgen, irgendwann müsse doch mal Schluss sein. Oder nicht?
Manchmal höre ich aber auch Äußerungen wie: „Wir brauchen doch gar kein weiteres Wachstum, es ist doch alles gut so, wie es ist, wir können froh sein, wenn wir uns den Status quo erhalten können, wenn wir unseren jetzigen Wohlstand sichern. Wir haben alles, was wir brauchen, wir müssen nicht weiterwachsen.“ Das hat mit Verlaub – und dafür werde ich jetzt sicher bei dem einen oder anderen Leser in Ungnade fallen – schon etwas von Selbstzufriedenheit. Denn eine solche Sichtweise lässt sich im Grunde nur dann einnehmen, wenn man satt ist, wenn man alles hat. Doch das ist selbst in unserem im Durchschnitt so wohlhabenden Land nur bei einem kleineren Teil der Bevölkerung der Fall. Für uns als Volkswirtschaft und vor allem als Gesellschaft ist diese Einstellung hochgradig problematisch.
Weniger Wirtschaftswachstum, weniger Einkommen
Wie heißt es in der öffentlichen Debatte hierzu immer so oft und schön: „Es kann nur verteilt werden, was zuvor auch erarbeitet wurde.“ Ich würde noch ergänzen: „Je mehr erarbeitet wird von umso mehr Menschen, desto weniger muss überhaupt verteilt werden.“ Wachstum ist eine wichtige Grundvoraussetzung dafür, soziale Gerechtigkeit ermöglichen zu können. Denn nur wenn die Wirtschaft eines Landes signifikant wächst, können z. B. auch die Löhne insgesamt steigen, können staatliche Leistungen zur Abfederung sozialer Härten greifen. Oder umgekehrt: Wächst die Wirtschaft kaum (wie zuletzt in Deutschland), geht das zuallererst zulasten derjenigen Bevölkerungsschichten, die am wenigsten haben. Vor allem langfristig hätte ein solches Nullwachstum enorm negative Wohlstandseffekte. Am Beispiel der Lohnentwicklung zeigt das die nachfolgende Grafik eindrücklich, die auf dem Artikel „Was passiert, wenn nichts passiert? Eine ökonomische Analyse“[1] von The Pioneer beruht:
Würde Deutschlands Wirtschaft bis 2044 nur um 1 Prozent pro Jahr wachsen, dann stiege das durchschnittliche Einkommen pro Kopf von derzeit 49.000 Euro auf etwa 59.000 Euro an. Würde die Wirtschaft hingegen um 3 % p. a. wachsen, wie wir es derzeit in den USA erleben, dann würde das durchschnittliche Einkommen deutlich stärker auf 90.000 Euro ansteigen. Ein enormer Unterschied! Erschreckend an diesem Vergleich: Selbst von dem 1%igen Wirtschaftswachstum sind wir derzeit weit entfernt, 2023 ist die deutsche Wirtschaft sogar um 0,3 % geschrumpft.
Wachstum verbessert Lebensbedingungen
Es kann also schon aus dieser Perspektive gar keine Rede davon sein, dass wir als Gesellschaft „überhaupt kein weiteres Wachstum bräuchten“, wie ich es immer mal wieder höre. Die Idee, dass die Wirtschaft doch nicht mehr wachsen müsse oder auch das derzeitige Mini-Wachstum ausreichen könnte, ist eben nicht nur eine theoretische Spielerei, sondern wäre praktisch enorm nachteilig und auch gefährlich für unsere Gesellschaft. Und das schon dargestellte Pro-Kopf-Einkommen ist nur eine Facette davon. Man kann das auch in einzelne konkretere Teilbereiche übertragen (so wie es auch im angesprochenen Artikel gemacht wird), z. B. auf den Wohnungsmarkt. Wir alle wollen wohnen, wir alle brauchen Wohnraum. Doch schon heute fehlen mehr als 300.000 neue Wohnungen in Deutschland. Unter den Annahmen des The-Pioneer-Artikels würde ein Wachstumsstopp am Wohnungsmarkt, der sich aus einem allgemeinen Nullwachstum ergibt, dazu führen, dass bis 2027 etwa 830.000 neu gebaute Wohnungen fehlen, bis 2044 sogar etwa 1,68 Millionen. Nun sei dahingestellt, wie treffsicher eine solche Prognose überhaupt sein kann. Sie führt aber vor Augen: Wachstum ist kein abstrakter Fetisch von Volkswirten, sondern ermöglicht ganz konkret immer bessere Lebensbedingungen – oder im Wohnungsbeispiel schlicht die Beseitigung von Mangel. Als Gesellschaft können wir uns einen Verzicht auf dieses Instrument zur Bewältigung von Herausforderungen für die Daseinsfürsorge schlicht nicht leisten.
Das lässt sich durchaus auch verallgemeinern: Wachstum bedeutet letztlich eine immer umfassendere Befriedigung von menschlichen Bedürfnissen in einer Gesellschaft. Ja, das Wachstum allein schafft das nicht garantiert immer für eine absolute Mehrzahl der Bevölkerung, immer wieder muss auch steuernd eingegriffen werden – aber OHNE Wachstum ist ein Mehr an Bedürfnisbefriedigung für alle schlicht unmöglich. Und aufgrund der Tatsache, dass die menschlichen Bedürfnisse unbeschränkt sind und sich stets weiterentwickeln (die meisten Bedürfnisse, die wir heute haben, gab es vor 50 Jahren überhaupt nicht!), kann es auch immer weiteres Wachstum geben (das natürlich immer ressourcenschonender generiert werden muss – und auch kann). Wachstum spiegelt also immer auch die menschliche Weiterentwicklung wider. Wir dürfen ganz zuversichtlich sein: Wachstum ist nichts, wovor wir Angst haben müssten oder das wir beschränken sollten, sondern ein normaler Zustand, der wirtschaftlich die Weiterentwicklung der Menschheit begleitet und abbildet.
Wachstumsschwäche ist Wurzel aller Populismusprobleme
Wachstumsskepsis oder -ablehnung ist daher aus meiner Sicht nicht nur inhaltlich zu kurz gesprungen, sondern regelrecht gefährlich. Erstens, weil wir letzten Endes alle davon profitieren können und fehlendes Wachstum für uns alle folglich nachteilig ist. Zweitens aber, und das halte ich noch für viel relevanter: Diese Skepsis kann dazu führen, dass das aktuelle Versagen Europas, für ein dauerhaftes, stabiles und gerechtes Wirtschaftswachstum zu sorgen, nicht als ernsthaftes Problem, sondern vielleicht sogar als begrüßenswert eingestuft wird. Tatsächlich aber halte ich nicht zuletzt diese Wachstumsschwäche für eine ganz wesentliche Wurzel für die Populismus-Probleme, die uns politisch auch in Europa so plagen.
Schon Bertolt Brecht wusste: „Erst kommt das Fressen, dann kommt die Moral“, was überhaupt nicht vorwurfsvoll oder abwertend gemeint ist, wie im Kontext der „Dreigroschenoper“ klar wird. Vielmehr: Solange Menschen die Erfüllung ihrer Grundbedürfnisse in Gefahr sehen, den Eindruck haben, dass immer nur andere profitieren und sie leer ausgehen (was umso wahrscheinlicher ist, je weniger Wachstum stattfinden kann), fallen sie leichter radikalen Weltanschauungen und deren unhaltbaren Heilsversprechungen zum Opfer, so wie wir es derzeit in vielen Teilen Europas erleben, auch in Deutschland.
Ein solides Wirtschaftswachstum ist also keine sinnlose Ideologie zum Vorteil weniger, sondern bildet eine der wichtigsten Grundlagen für den sozialen Frieden. Dieser soziale Aspekt von Wirtschaftswachstum fällt nach meiner Einschätzung viel zu oft unter den Tisch, spielt aber eine enorm große Rolle, sogar die wichtigste, wenn Sie mich fragen. Deshalb ist kein Wachstum keine Option, es wäre eine Rückentwicklung, würde uns Lebensqualität und Wohlstand kosten – und vielleicht sogar unsere politische Freiheit.
Autor: Karl Matthäus Schmidt, Vorstandsvorsitzender der Quirin Privatbank und Gründer von quirion
Was Sie davon haben, dass wir als Bank stetig wachsen, das verraten wir Ihnen bei einem kostenlosen und unverbindlichen Kennenlerntermin – wir freuen uns auf Sie.
[1] Was passiert wenn nichts passiert? Eine ökonomische Analyse | The Pioneer
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