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Unberechenbar wie Herbststürme: nicht nur die Märkte, leider auch die Prognosen

Prof. Dr. Stefan May
,
Leiter Anlagestrategie und Produktentwicklung
7
Minuten

Als regelmäßige Leserin bzw. regelmäßiger Leser unseres Logbuchs wissen Sie, dass wir uns immer sehr nachdrücklich dafür aussprechen, prognosefrei zu investieren – auch wenn das manchen zunächst befremden mag. Üblicherweise führen wir als Begründung dafür an, dass Prognosen als Grundlage für Anlageentscheidungen einfach nicht zuverlässig funktionieren: Weder die Richtung noch das Ausmaß der Kursveränderungen an den Finanzmärkten kann einigermaßen verlässlich vorhergesagt werden. Aber auch bei den maßgeblichen volkswirtschaftlichen Kennzahlen funktioniert die korrekte Vorhersage meistens nicht. Und sollte doch mal jemand eine bestimmte Entwicklung richtig vorhersagen, ist das purer Zufall oder schlichtweg Glück. Die Zukunft ist ungewiss – insbesondere die Börsen-Zukunft.

Das Wichtigste in Kürze

  • Dass Prognosen im Allgemeinen und Börsenprognosen im Speziellen sehr unzuverlässig sind, ist keine wirklich neue Erkenntnis.
  • Erstaunlich ist allerdings, dass die Prognosen selber innerhalb kürzester Zeit gravierenden Änderungen unterliegen … wie im bisherigen Jahresverlauf zu beobachten war.
  • Ein extremes Beispiel hierfür liefert das Hin und Her in den Erwartungen, was das Ausmaß möglicher US-Leitzinssenkungen bis zum Jahresende betrifft.
  • Wie sollten Anlegerinnen und Anleger hierauf reagieren? Ruhe bewahren! Prognosefrei, breit gestreut und diszipliniert investieren.

Durch die Nachrichtenlage der letzten Wochen wurde uns noch ein weiterer Grund für unsere Sichtweise vor Augen geführt, der zwar mit der genannten Unzuverlässigkeit von Prognosen etwas zu tun hat, aber zusätzlich eine eigenständige Note aufweist: Prognosen sind nämlich nicht nur unzuverlässig, sondern sie drehen sich auch so schnell wie ein Herbststurm. Vor allem die letzten Wochen waren dafür ein Paradebeispiel, nicht nur was das erratische Auf und Ab der Aktienmärkte anbelangt, sondern auch hinsichtlich der ökonomischen Prognosen. Fast konnte man den Eindruck gewinnen, dass es nicht die Kapitalmärkte sind, die sich an veränderte volkwirtschaftliche Einschätzungen anpassen, sondern dass umgekehrt die Prognosen den Marktentwicklungen folgen.

Lassen Sie als Beleg dieser These einfach mal die zurückliegenden Wochen Revue passieren: Zunächst sackte Anfang August der japanische Leitindex Nikkei 225 um über 12 % in den Keller. Anschließend wurden auch die weltweiten Aktienbörsen teils heftig nach unten gezogen, allen voran die US-Technologiewerte.

Wie schon oft in der Vergangenheit in solchen Krisensituationen zu beobachten, überboten sich auch dieses Mal die medial befeuerten Befürchtungen: Von nicht weniger als der „Kernschmelze des globalen Finanzsystems“, einer „Börsenlawine“, „alarmierenden Dominoeffekten“ und dem „kurz bevorstehenden großen Börsen-Crash“ war die Rede. Nun sind Katastrophenszenarien für die Finanzmärkte weder etwas Ungewöhnliches noch neu. Immerhin sind sie die Geschäftsgrundlage vieler entsprechender Finanzmarktpublikationen, so dass man sich über den Sturm im Blätterwald nicht zu wundern braucht.

Was aber dann doch überraschte, war, wie schnell sich auch die volkswirtschaftlichen Einschätzungen veränderten, insbesondere hinsichtlich des weiteren BIP-Wachstums und der Entwicklung der Leitzinsen. Denn plötzlich gab es nicht nur aus Japan, sondern auch aus der größten Volkswirtschaft der Welt, den USA, besorgniserregende Nachrichten: Schwache Daten vom US-Arbeitsmarkt und aus dem verarbeitenden Gewerbe ließen plötzlich erstmals seit langer Zeit die Gefahr einer Rezession in den USA greifbar werden. Letztlich kam dann doch wieder mal alles anders: Neuere Konjunkturdaten ließen wieder mehr Optimismus aufkommen, die Konjunkturängste lösten sich schnell in Luft auf und auch die noch kurz vorher aufgekommenen Zweifel am Gewinnpotenzial der KI-Unternehmen waren plötzlich wie weggewischt.

Noch wilder ging es an der Zinsfront zu. Bleiben wir der Einfachheit halber mal in den USA, die auch in Sachen Leitzinsen weltweit den Takt vorgeben. Zum Start des Jahres 2024 herrschte die Überzeugung, dass im Laufe des Jahres die US-Zentralbank das Leitzinsniveau in sechs bis sieben Schritten (à 0,25 Prozentpunkte) massiv absenken würde. Diese Erwartung korrigierte man anschließend auf nur noch drei mögliche Senkungen bis Jahresende, um dann zur Jahresmitte aufgrund der anhaltend hartnäckigen Inflation nur noch von einem Zinssenkungsschritt auszugehen. Manche hielten es sogar für möglich, dass Zinssenkungen in 2024 sogar komplett ausfallen könnten, und wir erinnern uns an mindestens eine Stimme, die sogar wieder Zinserhöhungen ins Spiel brachte.

Innerhalb von nur einem halben Jahr gab es somit höchst erstaunliche Wendungen in der Einschätzung einer für die Kapitalmärkte so immens wichtigen Größe wie der US-Leitzinsen. Diese werden immerhin von einer Institution festgelegt, die eigentlich für Kontinuität und Berechenbarkeit stehen sollte. Aber selbst von der US-Notenbank gab es im bisherigen Jahresverlauf widersprüchliche Aussagen, wie es denn nun mit den Leitzinsen weitergeht.

Doch damit nicht genug, das Prognosekarussell drehte sich zuletzt munter weiter: Aufgrund der bereits erwähnten, plötzlich aufflackernden US-Rezessionssorgen (und der Börsenturbulenzen) konnte man sich auf einmal doch wieder drei Zinssenkungsschritte bis Jahresende (davon ein großer à 0,5 Prozentpunkte) vorstellen. Aktuell bildet sich auch diese Erwartung (aufgrund einer Entwarnung an der Konjunktur- und Börsenfront) schon wieder zurück. Ein wildes Hin und Her, das sich sehr anschaulich auch in der Entwicklung des Fed-Funds-Future-Kontraktes widerspiegelt, die in nachfolgender Grafik dargestellt ist. Der besagte Future spiegelt die jeweils aktuellen Erwartungen der Marktteilnehmer für das US-Leitzinsniveau per Jahresende 2024 wider. So wurde noch Ende Januar ein Leitzinsniveau von 3,75 % in den Future-Kontrakt eingepreist, aktuell sind es bereits wieder rund 4,6 %.

Nun stellen Sie sich bitte angesichts des skizzierten Prognosekarussells einmal vor, Sie würden all diese Volten mitschlagen und in schneller Abfolge entsprechende Kauf- und Verkaufsorders in Auftrag geben. Selbst wenn sich die eine oder andere der vielen Prognosen im Nachhinein als richtig erweisen sollte, wären Sie am Ende ärmer, als wenn Sie nichts unternommen hätten … und hätten vermutlich ein zerrüttetes Nervenkostüm.

Fazit

  • Gerade in turbulenten Börsenzeiten ist es besonders wichtig, den Verlockungen kurz- und mittelfristiger Prognosen zu widerstehen, auch wenn sie noch so überzeugend klingen.
  • Das Vernünftigste ist, Ruhe zu bewahren und vor allem investiert zu bleiben.
  • Zwar folgt nach jedem Börsenaufschwung irgendwann unweigerlich eine Korrektur.
  • Nur: Wann genau diese kommt, wie stark sie ausfällt und wie lange sie andauert, weiß im Vorhinein niemand … wirklich niemand.
  • Solange die Weltwirtschaft und mit ihr die Unternehmensgewinne wachsen, werden sich die Aktienmärkte aber per saldo erfahrungsgemäß positiv entwickeln.

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Über den Autor
Prof. Dr. Stefan May

Prof. Dr. Stefan May ist als Leiter Anlagestrategie und Produktentwicklung seit 2014 bei der Quirin Privatbank tätig und hat jahrzehntelange Erfahrung in der Kapitalmarktpraxis. Er ist zudem seit rund 30 Jahren Professor für Finanzmarktanalyse und Portfoliomanagement an der Technischen Hochschule Ingolstadt (mittlerweile emeritiert). Prof. May hatte maßgeblichen Anteil an der Einführung unseres auf wissenschaftlichen Erkenntnissen der Kapitalmarktforschung basierenden Anlagekonzepts. Als Vorsitzender des Anlageausschusses der Bank ist er – gemeinsam mit dem Team der Vermögensverwaltung – nach wie vor für die fortlaufende Gestaltung und Optimierung der Anlagestrategien verantwortlich.

Hören Sie passend zum Thema unseren Podcast „klug anlegen“

Prognosefreies Anlegen gehört zu den wichtigsten Grundsätzen einer rationalen Vermögensanlage. Das ideale Anlageinstrument für die praktische Umsetzung sind ETFs. Was bei der ETF-Anlage – speziell von Börsenneulingen – zu beachten ist, darüber spricht Karl Matthäus Schmidt in seinem Podcast. Hören Sie bei Interesse gerne rein!

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