Wir gehen davon aus, dass wir im Vorfeld des Urnengangs die Aufführung eines Schauspiels erleben werden, dessen Dramaturgie ungefähr die folgende sein wird: Alles in allem sei die Ampelkoalition eine zwar teils kontrovers streitende, durch die ausgleichende Rolle des Bundeskanzlers aber letztlich doch funktionierende und erfolgreiche Regierung gewesen. Insbesondere habe man sich auf eine Reihe vernünftiger wirtschaftspolitischer Maßnahmen einigen können, die das Land vorangebracht hätten, wenn sie denn auch umgesetzt worden wären. Doch genau das habe (Ex-)Finanzminister Lindner durch sein kleinkariertes und dogmatisches Verhalten am Ende verhindert. Das Wohl des Landes und damit seiner Bürgerinnen und Bürger sei ihm dabei egal gewesen und er habe sich ausschließlich an den Interessen seiner eigenen Partei orientiert.
Sehr geehrte Leserin, sehr geehrter Leser, wir wollen auch in diesem Logbuch keine parteipolitischen Präferenzen äußern. Unser Logbuch war bisher immer und bleibt auch in Zukunft unpolitisch. Der Grund, warum wir dennoch dieses Thema gewählt haben, ist ein in der politischen Debatte häufig vernachlässigter Aspekt, auf den wir Sie gern aufmerksam machen möchten: Dem soeben skizzierten Wahlkampfschauspiel liegen Vorstellungen von wirtschaftspolitischen Zusammenhängen zugrunde, die mit der Realität kaum etwas gemein haben. Es wird nämlich dabei unterstellt, dass es jenseits aller parteipolitischen Ideologien eine Art wirtschaftspolitischen „Konsens der Vernünftigen“ gebe, auf den man sich mit etwas gutem Wille durchaus einigen könne. Wer sich diesem Konsens verweigere, könne das nur aus unlauterem, rein parteipolitischem Eigeninteresse tun. Und genau so habe sich Christian Lindner verhalten, indem er allgemein als förderlich anerkannte wirtschafts- und finanzpolitische Maßnahmen immer wieder sabotierte und dadurch eine ansonsten durchaus erfolgreiche Regierung am Ende zu Fall brachte.
Unterschiedliche Vorstellungen, wie Marktwirtschaft funktioniert
So eingängig diese Erzählung für den einen oder die andere vielleicht auch sein mag, der tatsächliche Sachverhalt erweist sich als nicht ganz so einfach. Was in besagter Erzählung nämlich untergeht, ist, dass es zwei unterschiedliche und sich diametral gegenüberstehende Vorstellungen von der grundlegenden Funktionsweise eines marktwirtschaftlichen Systems gibt. Diese waren innerhalb der Ampel-Regierung stets vorhanden und sind regelmäßig heftig aufeinandergeprallt – personifiziert durch die beiden Minister Robert Habeck und Christian Lindner.
Die wesentlichen Unterschiede in den beiden Vorstellungen zeigen sich vor allem in der Frage, welche Bedeutung das freie Spiel der Märkte einerseits und ein regulierender Staat andererseits für die gesamte Volkswirtschaft haben. Je nachdem, ob der Schwerpunkt mehr bei den freien Marktkräften oder bei staatlichen Interventionen liegt, ergeben sich völlig unterschiedliche Bewertungen der Lage sowie konkreter wirtschaftspolitischer Maßnahmen.
Beide Sichtweisen werden im Folgenden kurz gegenübergestellt. Vorsorglich sei darauf hingewiesen, dass die entsprechenden Zuschreibungen bewusst sehr zugespitzt formuliert sind. In der wirtschaftspolitischen Praxis dagegen sind Abstufungen und verschwimmende Grenzen die Regel. Auch lassen sich einzelne Positionen nicht immer eindeutig einzelnen Parteien zuordnen. So gibt es beispielsweise in der als wirtschaftsfreundlich geltenden CDU durchaus Kreise, die eher staatlichen Interventionen zuneigen, so wie es auch in der SPD – ja selbst bei den Grünen – durchaus auch Vertreterinnen und Vertreter möglichst freier Märkte gibt.
Was unterscheidet die beiden „Doktrinen“?
Wie bereits erwähnt gibt es zwei divergierende Vorstellungen von der grundsätzlichen Funktionsweise eines marktwirtschaftlichen Systems. Die „Markt-Apologeten“ – so wollen wir sie einfachheitshalber nennen – gehen davon aus, dass marktwirtschaftliche Prozesse – von wenigen und exakt identifizierbaren Ausnahmen abgesehen – grundsätzlich auch zu gesellschaftlich gewünschten Ergebnissen führen. Die andere Seite der „Staats-Interventionisten“ dagegen ist der Überzeugung, dass der Markt zu häufig gesellschaftlich und politisch unerwünschte Zustände und Fehlentwicklungen erzeugt und diese durch staatliche Eingriffe laufend korrigiert und in die (vermeintlich) richtige Richtung gelenkt werden müssen.
Dementsprechend unterschiedlich fällt die Beurteilung konkreter wirtschaftspolitischer Maßnahmen aus. Man nehme nur als aktuelles Beispiel die Krise der deutschen Automobilindustrie. Während es für die einen auf der Hand liegt, dass der Absatz von Elektrofahrzeugen aus deutscher Produktion durch üppige staatliche Kaufprämien gefördert werden sollte, haben andere damit große Bauchschmerzen. Sie verweisen vielmehr auf den von der Branche mehr oder weniger selbst verschuldeten Verlust an internationaler Wettbewerbsfähigkeit sowie auf die erheblichen Verteilungswirkungen einer solchen Subventionierung. Denn immerhin bewirkt sie, dass eine ohnehin relativ wohlhabende Gruppe potenzieller Käufer von E-Fahrzeugen durch das Gros der Steuerzahler auch noch bezuschusst wird.
Oder man nehme die geplanten (letztlich nicht abgerufenen) staatlichen Subventionen in Höhe von immerhin 10 Mrd. € für den Bau einer Chip-Fabrik des US-Unternehmens Intel in Magdeburg. Für die einen handelt es sich um eine vernünftige industriepolitische Maßnahme, während andere kritisch darauf verweisen, dass man, statt Milliarden-Subventionen für vorgebliche Zukunftsprojekte auszuschütten, das Geld lieber einsetzen sollte, um die generelle Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands als Industriestandort zu verbessern. Letztlich gehe es darum, dafür zu sorgen, dass es für internationale Unternehmen auch ohne großzügige Subventionen interessant ist, in Deutschland zu investieren.
Unterschiede gibt es jedoch nicht nur bei den grundsätzlichen Einschätzungen zum marktwirtschaftlichen System, sondern auch in der Frage, wie sich bestimmte politische und wirtschaftliche Ziele am besten erreichen lassen. Die wesentlichen Aspekte der beiden „Glaubensrichtungen“ haben wir in der nachfolgenden Tabelle zusammengefasst.
So, wie Sie uns als unsere Leserinnen und Leser bisher kennengelernt haben, wird es Sie angesichts der obigen Gegenüberstellung vermutlich nicht allzu sehr wundern, dass wir eher den Positionen der „Markt-Apologeten“ zuneigen. Das macht diese Sichtweise aber nicht zur alleingültigen wirtschaftspolitischen Wahrheit oder zum eingangs erwähnten „Konsens der Vernünftigen“. Unterschiedliche wirtschaftspolitische Herausforderungen erfordern entsprechende Maßnahmen, die mal mehr auf der einen, mal mehr auf der anderen „Seite“ verortet sind. Insofern geht es uns nicht darum, Sie politisch zu beeinflussen. Zumal es – wie bereits angesprochen – in allen Parteien beide Positionen gibt, allerdings mit unterschiedlich starken Ausprägungen.
Der eigentliche Grund, warum wir dieses (für uns eher untypische) Thema im Rahmen eines Logbuchs behandeln wollten, besteht einfach darin, auf tiefere wirtschaftliche Zusammenhänge aufmerksam machen zu wollen, die in den zu erwartenden einfachen Botschaften des kommenden Wahlkampfgetöses vermutlich untergehen werden. Nichtsdestotrotz könnten sie für die eigene Entscheidung durchaus eine Rolle spielen.
Für die Entwicklung eines international ausgerichteten Wertpapierdepots – das sollte auch aus vielen meiner bisherigen Logbücher deutlich geworden sein – spielt der Wahlausgang in Deutschland keine Rolle. Der deutsche Aktienmarkt ist global gesehen ein Zwerg und die großen DAX-Konzerne verdienen ihr Geld vornehmlich außerhalb Deutschlands.