Am 14. September tagte die Europäische Zentralbank (EZB) und am 19./20. September die US-Notenbank Fed. Selten wurde eine Sitzung der EZB mit solch großer Spannung erwartet wie dieses Mal und selten waren Fachleute im Vorfeld derart uneins in Bezug auf mögliche Beschlüsse. Die entscheidende Frage lautete: Wird die EZB die Leitzinsen weiter erhöhen – oder doch erst mal eine Zinspause einlegen? Letzten Endes entschied sie sich dafür, den Leitzins (im Fachjargon: Hauptrefinanzierungssatz) noch einmal um 0,25 Prozentpunkte auf jetzt 4,5 Prozent hochzusetzen. Der ebenfalls stark beachtete Einlagenzins (Zinssatz, zu dem Geschäftsbanken überschüssige Gelder kurzfristig bei einer Notenbank parken) wurde von 3,75 auf 4,0 Prozent angehoben. Die US-Notenbank legt hingegen eine weitere Zinspause ein, die Leitzinsspanne liegt somit nach wie vor bei 5,25 bis 5,5 Prozent.
Preisstabilität hat im Zweifelsfall Vorrang
Der aktuelle Zinserhöhungszyklus ist der aggressivste seit der Euro-Einführung 1999 – eine Anhebung des Leitzinses um 450 Basispunkte binnen 14 Monaten ist beispiellos. Zehn Zinserhöhungen am Stück gab es ebenfalls noch nie.
Von alldem hat sich die EZB bei ihrer jüngsten Zinsentscheidung aber nicht beeinflussen lassen. Sie will mit der neuerlichen Zinsanhebung vielmehr ein klares Signal senden: Die EZB meint es ernst mit der Rückkehr zum 2-Prozent-Inflationsziel (aktuelle Teuerungsrate im Euro-Raum: 5,2 Prozent). Mit Blick auf die von der EZB für 2023 und 2024 nach oben angepassten Inflationserwartungen (siehe nachfolgende Grafik) ist die jetzt erfolgte Leitzinserhöhung ein durchaus nachvollziehbarer Schritt. Die Gefahr einer zweiten Inflationswelle wie in den 1970er Jahren mag derzeit zwar gering erscheinen – leichtfertig abtun sollte man sie aber nicht … auch aufgrund des zuletzt wieder stärker gestiegenen Ölpreises. Von ihrem eingeschlagenen Anti-Inflationskurs lässt sich die EZB auch von zurückgeschraubten Projektionen für das Wirtschaftswachstum im Euro-Raum nicht abbringen.
Zweifelsohne haben auch diejenigen gute Argumente, die mit einer Zinspause gerechnet hatten: Die bisherigen Leitzinserhöhungen haben ihre volle Wirkung noch gar nicht richtig entfaltet. Die Empirie legt nahe, dass dies durchaus 12 bis 18 Monate dauern kann. Daher könnte ein wesentlicher Teil der Wirkung noch ausstehen, weil die EZB ihre Zinserhöhungen erst im vergangenen Sommer – genau genommen am 21. Juli 2022 – gestartet hat.
Zudem ist die Inflation auf dem Rückzug, wenn auch mühsam (siehe nachfolgende Grafik). Hinzu kommt: Die Euro-Wirtschaft (allen voran Deutschland) schwächelt derzeit gehörig und steigende Zinsen sind da sicherlich wenig hilfreich. Die jüngste Zinsentscheidung der EZB dürfte auch kurzfristig nachteilige Konsequenzen haben. Für die Wirtschaft im Allgemeinen und für Unternehmen im Speziellen sind die steigenden Zinsen eine Belastung. Finanzierungen werden teurer und bremsen womöglich Investitionen, die angesichts der rasant voranschreitenden Digitalisierung und des Klimawandels eigentlich keinen Aufschub dulden.
Aber für die EZB – und nicht nur für sie – gilt: Ohne stabile Preise ist dauerhaft auch kein nachhaltiges Wachstum möglich. Eine sinkende Inflation wird sowohl die Wirtschaft als auch die Verbraucherinnen und Verbraucher spürbar entlasten. Eine Pause hätte die EZB auf diesem Weg weitere Glaubwürdigkeit gekostet – werfen ihr doch nicht wenige vor, erst viel zu spät auf die kräftig anziehende Inflation reagiert zu haben. Das vorrangige Ziel der EZB besteht schließlich darin, Preisstabilität im Euro-Raum zu gewährleisten.
War es das jetzt mit den Leitzinserhöhungen?
Aufgrund von Äußerungen der EZB-Chefin Christine Lagarde in der Pressekonferenz nach dem jüngsten Zinsentscheid verfestigt sich die Ansicht, dass es der letzte Zinserhöhungsschritt im aktuellen Zyklus gewesen sein könnte. Denn laut der Notenbankchefin haben die Leitzinsen nun ein Niveau erreicht, das wesentlich zum Rückgang der Inflation auf den Zielwert von 2 % beitragen werde. Allerdings hat sich Lagarde – wie nicht anders zu erwarten war – auch die Tür für weitere Erhöhungen offengehalten. Eine Garantie für ein Ende der Zinserhöhungen gibt es also nicht. Oder wie es ein Volkswirt salopp formulierte: „Vermutlich ist der Deckel noch nicht endgültig drauf.“
Die nächsten EZB-Zinssitzungen finden am 26. Oktober in Athen und am 14. Dezember wieder in Frankfurt statt. Während auf den Auswärtssitzungen des EZB-Rats erfahrungsgemäß zinspolitisch nichts Gravierendes entschieden wird, könnte die Dezember-Sitzung nochmals für erhöhte Spannung sorgen.
Auf dem jetzt erreichten Niveau dürften die EZB-Leitzinsen unseres Erachtens erst mal für etwas längere Zeit verharren und nicht weiter erhöht werden. Bis die Zinsen wieder sinken, wird es folglich ebenfalls noch etwas dauern. Als realistischer Zeitpunkt für erste Senkungen der EZB-Leitzinsen gilt der Sommer 2024.
US-Notenbank hält dagegen erneut die Füße still
Die US-Notenbank Fed hat am Mittwoch den Leitzins für die größte Volkswirtschaft der Welt anders als die EZB unverändert gelassen. Er liegt derzeit in einer Spanne von 5,25 bis 5,5 Prozent. Im Kampf gegen die hohe Inflation hatten die amerikanischen Währungshüter den Leitzins innerhalb von 16 Monaten elfmal angehoben – zuletzt im Juli dieses Jahres um 0,25 Prozentpunkte.
Ob der Gipfel beim US-Leitzins bereits erreicht ist, lässt sich nach den jüngsten robusteren Wirtschaftsdaten aus den USA ebenfalls nicht eindeutig sagen. Ihren weiteren Kurs hält sich die mächtigste Notenbank der Welt – wie nicht anders zu erwarten war (und analog zur EZB) – offen. Die Währungshüter signalisieren, dass es in diesem Jahr zur Bekämpfung des Preisauftriebs noch einen weiteren Zinsschritt nach oben geben könnte. Im nächsten Jahr gehen sie in ihren Prognosen von ersten Zinssenkungen aus. Demnach könnte die Fed den Leitzins 2024 zweimal um je einen Viertelprozentpunkt senken.
Was bedeuten die jüngsten Notenbankentscheidungen für Anlegerinnen und Anleger?
Positiv für Anlegerinnen und Anleger ist zunächst einmal, dass EZB und Fed die Inflation, die auch an den Kapitalerträgen nagt, entschieden bekämpfen und somit den Geldwert sichern. Am Zinsmarkt profitieren Sparerinnen und Sparer als Folge der Anhebung der EZB-Leitzinsen von höheren Festgeldsätzen.
Da die vergleichsweise hohen Fest- und Termingeldsätze nicht ewig Bestand haben werden, kann zudem ein Investment in Anleihen mit mittleren Restlaufzeiten angedacht werden, um sich die Chancen hoher Zinsen – im Vergleich zu den letzten Jahren – auch für einen längeren Zeitraum zu sichern. So rentieren beispielsweise solide Unternehmensanleihen mit „Investment-Grade-Status“ (Rating AAA bis BBB-) im Schnitt mit rund 4 Prozent pro Jahr (im mittelfristigen Laufzeitensegment).
Dass einiges darauf hindeutet, dass der Zinsgipfel dies- und jenseits des Atlantiks nunmehr (fast) erreicht sein dürfte, ist nicht zuletzt auch für die Aktienmärkte eine grundsätzlich positive Nachricht. Denn damit entweicht Unsicherheit aus dem Markt … und die Börse hasst bekanntlich nichts mehr als Unsicherheit. Die nächsten Wochen sollten dann auch Klarheit schaffen, ob die Fed tatsächlich noch einen letzten kleinen Zinsschritt nach oben vollziehen wird oder nicht. Hinzu kommt: Wirtschaftlich schwierige Zeiten (wie aktuell) waren in der Vergangenheit nicht selten gute Einstiegszeitpunkte bei Aktien.
Fazit
Bei aller verbleibenden Restunsicherheit bestehen gute Chancen, dass im Euro-Raum der (Leit-)Zinsgipfel jetzt erreicht ist und die USA zumindest (sehr) kurz davorstehen. Dies ist grundsätzlich eine gute Botschaft für Investorinnen und Investoren. Aber auch Verbraucherinnen und Verbraucher können sich freuen, denn die Notenbanken nehmen den Kampf gegen die Inflation sehr ernst.
Welche Anlageform man in der aktuellen Gemengelage auch wählt: Festgeld, Anleihen oder Aktien … ein Mix aus allen drei ist entscheidend. Wie hoch die einzelnen Anlageformen prozentual gewichtet werden sollten, richtet sich in erster Linie nach der individuellen Risikoneigung jeder bzw. jedes Einzelnen. Zudem sind bei Aktien und Anleihen eine breite Streuung und ein längerer Anlagehorizont (in Kombination mit Disziplin und Geduld) unabdingbar. Dieser Ratschlag gilt im Übrigen nicht nur im aktuellen Umfeld, sondern zu allen (Anlage-)Zeiten.
Autor: Prof. Dr. Stefan May, Leiter Anlagestrategie und Produktentwicklung der Quirin Privatbank
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