„Diversification ist the only free lunch.“ Gemäß diesem Grundsatz sind die Vorteile der Diversifizierung eines Wertpapierdepots das Einzige, was es an den internationalen Finanzmärkten kostenlos gibt. Für alles andere dagegen hat man zu bezahlen – in welcher Form auch immer. Aus rationaler Perspektive und finanzwirtschaftlich betrachtet ist der eingangs erwähnte Grundsatz absolut korrekt. Es ist daher sehr zu begrüßen, dass die Empfehlung, möglichst breit zu streuen, mittlerweile zur wichtigsten Anforderung jeder seriösen Geldanlageberatung geworden ist.
Bewertet man die Angelegenheit allerdings aus verhaltenspsychologischer Perspektive, dann stellt sie sich etwas anders dar. Dann zeigt sich nämlich, dass man auch für Diversifizierung einen ganz speziellen Preis zu zahlen hat – nämlich ununterbrochen dem unangenehmen Gefühl ausgesetzt zu sein, etwas zu verpassen. Um zu verstehen, was dieser „psychologische Preis“, der in der Verhaltensforschung auch als „FOMO“ (fear of missing out) bekannt ist, mit einem diversifizierten Portfolio zu tun hat, müssen wir den Prozess der Diversifizierung etwas genauer betrachten.
Die Essenz der Diversifizierung …
Es gibt nicht nur DIE eine Methode der Diversifizierung, sondern verschiedene Arten; angefangen bei der sogenannten „naiven Diversifizierung“ über die „Varianz-Kovarianz-Diversifizierung“ bis hin zur wissenschaftlich anerkannten Diversifizierung mittels Marktkapitalisierung und Faktororientierung. Die genannten – zugegebenermaßen kryptisch klingenden – Methoden sind nun nicht etwa gleichwertig, sondern manche sind besser und manche schlechter geeignet. Doch das ist nicht Thema des vorliegenden Logbuchs, weshalb wir uns eine detaillierte Beschreibung der erwähnten Diversifizierungsmodelle sparen können.
Stattdessen möchten wir einen Umstand hervorheben, den alle Diversifizierungsmethoden gemeinsam haben, nämlich den, dass sie immer zu einer Durchschnittsbildung führen. Die Gesamtperformance eines diversifizierten Portfolios – sei es nun gut oder schlecht strukturiert – ist immer die gewichtete durchschnittliche Wertentwicklung all seiner Portfoliobestandteile, wobei die Höhe der jeweiligen Gewichtung davon abhängt, nach welcher Methode diversifiziert wurde. In jedem Fall aber stellt die Wertentwicklung einen Durchschnitt dar.
Definitionsgemäß bedeutet der Begriff Durchschnitt auch, dass es zu jedem Zeitpunkt Depotbestandteile gibt, die deutlich besser (schlechter) laufen bzw. gelaufen sind als das Depot in seiner Gesamtheit. Dies können einzelne Aktien/Anleihen sein, einzelne Länder oder Branchen bis hin zu bestimmten Regionen.
Die folgende Grafik illustriert den geschilderten Sachverhalt anhand der Wertentwicklung von zehn mehr oder weniger zufällig ausgewählten deutschen Standardwerten in den letzten rund drei Jahren. Unter der Bedingung, dass alle zehn Aktien gleich hoch gewichtet sind, wird hieraus ein einfacher Durchschnittswert errechnet und der jeweiligen Kursentwicklung der Einzelaktien gegenübergestellt.
… und was sie psychologisch bewirkt
Nun werden Sie, geehrte Leserin, geehrter Leser, die durch obige Abbildung illustrierte Unterschiedlichkeit in den Wertentwicklungen der ausgewählten Aktien vermutlich als trivial erachten. Und damit haben Sie auch völlig recht. Uns geht es an dieser Stelle aber nicht um diesen Sachverhalt schlechthin, sondern vielmehr darum, was er gewissermaßen psychologisch bewirken kann.
Man stelle sich zum besseren Verständnis eine Anlegerin vor, die zu gleichen Teilen in alle zehn Aktien aus der obigen Grafik investiert hat. Die Wertentwicklung ihres Depots wird der fett gedruckten Linie entsprechen (insgesamt rund 20 % Plus über rund 3 Jahre). Nun stelle man sich des Weiteren vor, dass die Anlegerin durch die einschlägigen Medien permanent mit immer neuen Erfolgsmeldungen gefüttert wird, wie zukunftsträchtig doch die Branche sei, in der das Unternehmen XY tätig ist, wie gut dieser Konzern aufgestellt sei usw. und dass man deshalb unbedingt in seine Aktien investieren müsse. Mit großer Genugtuung stellt unsere Anlegerin nun fest, dass sich eben diese Aktie bereits in ihrem Depot befindet und sich bislang weit überdurchschnittlich entwickelt hat. Selbst wenn die Anlegerin von ihrer Bank vorbildlich beraten wurde und sie deshalb auch vom Grundsatz der Diversifizierung überzeugt sein mag, wird sie es vermutlich irgendwann bedauern, dass nicht ein größerer Anteil ihres Vermögens in besagter Highflyer-Aktie investiert wurde.
Hinzu kommt: Unabhängig davon, zu welchem Zeitpunkt man auf ein diversifiziertes Depot blickt, die Entwicklung wird nie die beste sein. Es wird immer einzelne Aktien oder Aktiensegmente geben, die (teils deutlich) besser gelaufen sein werden als andere im Depot befindliche. Und ob man es nun will oder nicht: Dieser Umstand verursacht ein inneres Unbehagen, das zwar von Person zu Person unterschiedlich stark ausgeprägt sein mag, aber doch immer vorhanden ist. Deshalb sprechen wir in diesem Zusammenhang vom psychologischen Preis der Diversifizierung.
Selbstverständlich gibt es immer auch Depotbestandteile, die deutlich schlechter gelaufen sind als der Durchschnitt aller Depotwerte bzw. als das Gesamtdepot. Die Freude darüber, die entsprechenden (teils starken) Verluste durch Diversifizierung abgefedert zu haben, wiegt jedoch den Ärger über entgangene Gewinne in der Regel nicht auf. Wobei „entgangene Gewinne“ sich auf die an der Anlegerin nagenden Erkenntnis bezieht, dass man die „Kursraketen“ im Depot hätte deutlich höher gewichten müssen. Verstärkt wird das Ganze durch den Umstand, dass von der einschlägigen Presse bevorzugt über Gewinneraktien berichtet wird und weniger über Verlierer – wenn es sich nicht gerade um eine spektakuläre Pleite handelt.
Tendenziell bleiben also im Bewusstsein der Anlegerinnen und Anleger eher die satten Kursgewinne, die man mit bestimmten Aktien erzielen konnte, hängen. Testen Sie sich selbst: Erinnern Sie sich noch an die vielen überschwänglichen Pressemeldungen, als der Kurs der BioNTech-Aktie (ein absoluter Börsenliebling zu Corona-Zeiten) mit einem Zuwachs von über 400 % innerhalb von knapp neun Monaten brillierte – von Ende 2020 bis Anfang August 2021? Vermutlich schon.
Doch haben Sie auch realisiert, dass die Aktie anschließend innerhalb nur weniger Monate – von Anfang August 2021 bis Ende Januar 2022 – um fast 70 % (!) eingebrochen ist und sich davon bis heute nicht erholt hat? Am 17.10.2023 lag der Schlusskurs der BioNTech-Aktie im XETRA-Handel bei 91,50 € und damit satte 77 % unter dem am 10. August 2021 erreichten Allzeithoch von 395 €. Wie ausführlich wurde über diesen dramatischen Kursabsturz in der Presse berichtet? Wohl eher spärlich …, wenn überhaupt.
Durch obige Grafik wird ein weiterer Vorteil eines wohldiversifizierten Depots deutlich: Solch extreme Ausschläge sind dadurch im Grunde ausgeschlossen.
Spreizung der Wertentwicklungen zeigt sich auch bei den diversen Aktienmarktsegmenten
Ein ähnliches Bild wie bei Einzelaktien zeigt sich auch, wenn man einzelne Aktienmarktsegmente mit ihrem Durchschnitt vergleicht. Und in diesem Fall hat das Ganze im Anlagealltag sogar eine noch höhere Relevanz. Seit einigen Jahren stehen nämlich neben Einzeltiteln verstärkt auch ganz bestimmte Aktienmarktsegmente im Fokus der Fachpresse und der allgemeinen Aufmerksamkeit. Man denke nur an den aktuellen Hype um wachstumsstarke Unternehmen, speziell aus dem Technologiebereich, die sich verstärkt dem Thema „Künstliche Intelligenz“ widmen.
Die nachfolgende Grafik zeigt für die Jahre 1999 bis 2003 die Wertentwicklungen von insgesamt fünf speziellen globalen Aktienmarktsegmenten sowie, fett gedruckt, den einfachen Durchschnitt daraus.
Das Segment, welches alle anderen übertraf, war seinerzeit das der sogenannten „Substanzwerte“ („Value Stocks“) mit einem Wertzuwachs von knapp 90 %. Verglichen damit war die Entwicklung des Durchschnitts aller fünf Segmente mit einem Plus von 18 % geradezu enttäuschend. Am anderen Ende des Spektrums befanden sich die sogenannten „Wachstumswerte“ („Growth Stocks“), die über die betrachteten fünf Jahre hinweg einen Verlust von 18 % einstecken mussten. Vor diesem Hintergrund verwundert es nicht, dass damals vor allem die Substanzwerte groß „angesagt“ waren und viele Anlagestrategien fast ausschließlich damit bestückt wurden.
Ein strukturell ähnliches Bild, allerdings mit vertauschten Rollen, zeigt sich im folgenden Chart, der die Wertentwicklungen derselben Aktienmarktsegmente 20 Jahre später zeigt, d. h. in den Jahren 2019 bis (August) 2023.
Nun sind es die Wachstumsaktien, die mit einem Plus von 111 % deutlich die Nase vorn haben. Der durchschnittliche Zuwachs aller fünf Segmente belief sich auf 71 %, während sich am Ende des Spektrums zwei Segmente mit spürbar geringerem Wertzuwachs tummeln: Aktien mit zuletzt geringer Volatilität („Low-Volatility-Stocks“) mit einem Plus von 48 % und Substanzwerte mit einem Zuwachs von 51 %. Und wieder bleibt festzuhalten, dass genau über das Segment schwerpunktmäßig berichtet wird, welches die zuletzt beste Wertentwicklung aufweist. Aktuell sind es eben die Wachstumswerte, angeführt von den amerikanischen Technologieriesen.
Nicht zuletzt deshalb möchten wir einmal mehr daran erinnern, dass es unmöglich ist, bereits heute die Gewinneraktien oder -segmente von morgen zuverlässig zu identifizieren – auch wenn das immer wieder behauptet wird. Betrachtet man die entsprechenden Empfehlungen etwas genauer, zeigt sich eine ausgeprägte Abhängigkeit von den aktuellen Wertentwicklungen: Vor 20 Jahren, als Substanzwerte alle anderen Aktien in den Schatten stellten, dachte fast niemand an Wachstumstitel – man machte einen Bogen um sie. Heute dagegen, da Wachstums- bzw. Technologietitel in aller Munde sind, will kaum jemand etwas mit Value-Aktien zu tun haben. Die Grafiken 3 und 4 zeigen anschaulich, warum das so ist. Im Zentrum der Aufmerksamkeit stehen immer die Segmente, die eine Erfolgsgeschichte hinter sich haben.
Interessehalber werden wir diesen Logbuch-Artikel auf Wiedervorlage in 20 Jahren (sprich: auf Ende 2043) legen, um dann erneut einen Vergleich der einzelnen Aktienmarktsegmente anzustoßen. Ein nicht ganz ernst gemeintes Vorhaben, das aber vermutlich neue auffällige Verschiebungen innerhalb der Aktienmarktsegmente zeigen würde.
Fazit
Halten wir also fest: Anlegerinnen und Anleger, die vernünftigerweise in ein breit gestreutes Portfolio investiert haben, bezahlen dafür womöglich einen psychologischen Preis, nämlich dem permanenten Gefühl ausgesetzt zu sein, etwas zu verpassen. Dieser „Preis“ wird durch die an sich ja erfreuliche menschliche Eigenschaft, sich tendenziell eher an positive als an negative Dinge zu erinnern, weiter nach oben getrieben. Das Ganze wird noch durch eine umtriebige Presse verstärkt, die aus nachvollziehbaren Gründen bevorzugt über Gewinner berichtet – Gewinner eignen sich halt besser für Schlagzeilen als Verlierer.
Damit ist aber auch schon eine Möglichkeit vorgezeichnet, wie man als Besitzerin bzw. Besitzer eines diversifizierten Depots diesen psychologischen Preis so gering wie möglich halten kann: Vermeiden Sie die permanente Informationsflut über einzelne Aktien, Anlagesegmente und vermeintlich todsichere Börsentipps. Machen Sie sich klar, dass niemand, wirklich niemand, die Gewinner von morgen auch nur einigermaßen zuverlässig prognostizieren kann („Glückstreffer“ inklusive) und dass diese Art von effektheischenden Nachrichten deshalb niemandem nützt außer der Presse und ggf. den Postulierenden selbst. Kurzum: Verabschieden Sie sich von der „Finanzpornografie“! Dann werden Sie schnell merken, dass Sie es sich durchaus leisten können, den psychologischen Preis der Diversifizierung zu bezahlen. Und Ihr Nervenkostüm wird obendrein geschont.
Autor: Prof. Dr. Stefan May, Leiter Anlagestrategie und Produktentwicklung der Quirin Privatbank
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