Zu all diesen Prognosen haben wir – und wenn Sie hier öfter reinlesen, wissen Sie das – eine sehr klare Meinung: Sie können zutreffen, müssen es aber nicht. Und werden es höchstwahrscheinlich auch nicht. Und obwohl das auch alle Beteiligten, vor allem die Experten und Analysten, wissen, können wir dieses fröhliche Prognosebingo jedes Jahr erneut beobachten.
Doch warum gibt es so viele Prognosen rund um die Geldanlage und weshalb treiben sie vor allem zum Jahresbeginn ihre wildesten Blüten?
Prognosen erfüllen mehrere Funktionen: Sie bieten Orientierung und das ist erstmal nicht verkehrt. Aber sie suggerieren auch Planbarkeit, beruhigen unter Umständen und schaffen dadurch eine Art Kontrollillusion. Die aber eben eine Illusion bleibt, da niemand weiß, was morgen, übermorgen oder in einem halben Jahr geschehen wird. Auch Analysten und Kapitalmarktexperten haben trotz ihrer fundierten Ausbildung, oft langjährigen Praxiserfahrung und umfassenden Fachkompetenz keine Glaskugel. Oft dienen Prognosen auch ganz profan der Verkaufsförderung. Wenn Anfang des Jahres boomende Rohstoffmärkte prophezeit werden, dann ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass das bei nicht unerheblich vielen Anlegerinnen und Anlegern verfängt – die dann ggf. ihre Anlageentscheidungen danach ausrichten. Davon kann ich aber nur abraten.
Und warum haben Prognosen vor allem am Jahresanfang Hochkonjunktur? Nun ja, die Fitnessstudios sind auch im Januar am vollsten. Viele Menschen nutzen den Jahresbeginn, um eine Bestandsaufnahme zu machen, die eigenen Ziele zu überprüfen und gegebenenfalls nachzujustieren, dort, wo es eben gerade erforderlich ist – sei es an der eigenen Fitness, der Ernährung oder eben der Aufstellung der eigenen Finanzen. In dieser Zeit fallen die Anlageprognosen vermutlich auf den fruchtbarsten Boden des gesamten Jahres, weil die meisten von uns in diesem „Wir stellen alles auf den Prüfstand“-Modus sind.
Doch wie erfolgreich sind Prognosen rund um Geldanlage und Vermögensaufbau denn eigentlich? Dazu habe ich neulich in einem ZEIT-Artikel ein Zitat von Fondsmanager Andreas Beck gelesen: „Eine Prognose kann idiotisch sein und trotzdem eintreten. Oder sie kann großartig sein, aber nicht zutreffen.“1 Das bringt es ziemlich gut auf den Punkt: Unabhängig von der inhaltlichen Aussage kann eine Prognose stimmen – oder eben nicht. Beispiele bietet der Blick in den Rückspiegel en masse.
So haben zahlreiche Analysten Anfang 2024 über das Jahr hinweg mehrere Zinssenkungen erwartet (nicht nur durch die EZB, sondern auch durch die US-Notenbank Fed), da man dachte, man habe die Inflation im Griff. Doch diese Senkungen kamen zunächst gar nicht, dann doch noch, aber in deutlich geringerem Maße und sehr spät im Jahr, speziell in den USA. Also eine Prognose, bei der es wieder einmal anders kam. Ähnlich war es bei der Stärke der US-Wirtschaft. So hat man zum Jahresanfang 2024 eine Rezession oder zumindest eine deutliche Konjunkturverlangsamung in den USA erwartet, beides ist gar nicht eingetreten.
Aber auch wenn es um konkrete Indexentwicklungen geht, liegen die Analysten nicht selten daneben – so auch 2024. Zu Beginn des vergangenen Jahres prognostizierten Analysten, der DAX werde Ende 2024 bei rund 17.000 Punkten notieren. Tatsächlich waren es dann fast 20.000 Punkte. Ähnlich sieht es bei den Prognosen für den S&P 500 aus. Hier wurde ein Jahresendstand von 4.757 Punkten prognostiziert, tatsächlich waren es 6.000 Punkte.2 Auch der weitere Blick auf die letzten Jahre zeigt ein ähnliches Bild – Prognosen liegen regelmäßig daneben.
Grundsätzlich gehen Prognosen trotz ihrer Beliebtheit und weiten Verbreitung mit einer Reihe von Problemen einher: Prognostiker neigen dazu, überoptimistisch zu sein oder nur Informationen zu nutzen, die ihre Annahmen bestätigen. Das führt zu Verzerrungen. Zudem werden Unsicherheiten oder die Variabilität, die mit der Zukunft verbunden sind, oft zu wenig berücksichtigt. Viele Prognosen stützen sich stark auf historische Daten und mathematische Modelle, was ihre Genauigkeit steigern kann, solange sich die Bedingungen nicht stark verändern. Doch Innovationen und neue Trends auf den verschiedensten Ebenen bewirken eben genau das.
Was wäre, wenn Prognosen funktionieren würden?
Wir sind – das werden viele von Ihnen wissen – ein Haus, das ganz bewusst auf Anlageentscheidungen verzichtet, die auf Prognosen basieren. Statt darauf zu setzen, was eventuell sein könnte oder eben auch nicht, vertrauen wir auf die Renditechancen des globalen Gesamtmarktes. Denn der – und das ist keine Prognose, sondern ein valider, über Dekaden entstandener Erfahrungswert – wirft langfristig rund acht Prozent Rendite per annum ab, mal mehr, mal weniger, aber im Schnitt ist das eine verlässliche Größenordnung.
Dennoch schauen auch wir natürlich, was an den Märkten passiert. So haben wir Ihnen, liebe Leserinnen und Leser, in Mays Logbuch letzte Woche einen umfassenden Jahresausblick unter wirtschaftlichen und Kapitalmarkt-Aspekten zur Verfügung gestellt. Die dort getroffenen Einschätzungen sind inhaltliche Leitplanken, die helfen können, sich von möglichen Börsen-Auf-und-Abs nicht aus dem (Anlage-)Konzept bringen zu lassen. Denn das ist die größte Herausforderung für viele Anlegerinnen und Anleger, insbesondere für die, die noch nie ein länger anhaltendes Tief mitmachen mussten. Aber – und das ist ein wichtiges Aber – unsere Einschätzungen dienen nicht dazu, um unsere Anlageentscheidungen für Ihr Vermögen danach auszurichten.
Warum sollten Anlageentscheidungen nicht auf Prognosen basieren? Weil niemand in die Zukunft sehen kann. Niemand weiß, ob und welche Prognosen eintreten werden – und welche nicht. Niemand hat den Wirecard-Skandal, die Pandemie oder den Ukraine-Krieg und deren Folgen konkret kommen sehen.
Und wenn Sie all das noch nicht überzeugt hat, dann schafft das vielleicht der folgende Gedanke, der ebenfalls aus dem oben zitierten Artikel der ZEIT3 stammt: Gäbe es Experten, die das Geschehen an der Börse wirklich über einen längeren Zeitraum verlässlich voraussagen könnten, würden sie ihren Job längst nicht mehr ausüben, sondern irgendwo in der Sonne auf einer Liege fläzen und von ihren üppigen Kapitalerträgen leben. Oder ihre Fähigkeit, in die Zukunft zu blicken, anderweitig zu Geld machen. Da das aber keiner tut, scheint wohl nicht so viel dran zu sein am alljährlichen Prognosebingo.