„Wie groß du geworden bist!“ Wer kennt ihn nicht, diesen Satz? Wer hat ihn nicht als Kind unzählige Male gehört? Und wer hat ihn nicht schon oft genug selbst gesagt – zu Kindern, Enkeln, Nichten und Neffen? Auch ich staune immer wieder, wie schnell meine fünf Kinder groß geworden sind, auch wenn die Jüngste gerade noch dabei ist. Was beim Nachwuchs oft ein Grund zur Freude ist – das stetige Wachstum –, wird in einem anderen Kontext oft sehr kritisch diskutiert. Allzu oft lese ich Aussagen, die mehr oder minder deutlich suggerieren, dass die Fixierung auf das Wachstum unserer Wirtschaft der Kern allen Übels ist. Insbesondere sei unser aller Wachstumsstreben schuld daran, dass das Klima sich verändert und unsere Welt heute da steht, wo sie eben steht – manch einer sagt: nahe am Abgrund. Daher müsse das Wirtschaftswachstum begrenzt oder – auch das ist manchmal zu lesen oder zu hören – gestoppt werden.
Wirtschaftswachstum ist kein Selbstzweck
In dieser Diskussion wird gerne so getan, als wäre wirtschaftliches Wachstum ein reiner Selbstzweck. Das ist es aber gar nicht. So wenig, wie eine Geldanlage einen Selbstzweck hat. Vielmehr geht es beim Geld doch immer darum, sich die Wünsche zu erfüllen, die man oder frau eben hat, fürs Alter vorzusorgen oder vieles mehr. Das Geld ist immer nur Mittel zum Zweck. So ähnlich ist es auch beim Wirtschaftswachstum: Es ist ein Mittel, um übergeordnete gesellschaftliche Ziele besser, schneller, einfacher zu erreichen, nämlich das, was man die Wohlfahrt einer Nation nennt. Und diese Wohlfahrt ist ganz bewusst nicht nur materiell gemeint, sondern dazu gehören auch so große Ziele wie Sicherheit, Frieden und Freiheit. Das sind allesamt Werte, die den meisten von uns sehr wichtig sind, die oft als selbstverständlich hingenommen werden, deren Erhalt aber jede Menge Geld und Ressourcen kostet. Um diese Wohlfahrt einer Gesellschaft gewährleisten zu können, reicht Wirtschaftswachstum allein zwar nicht aus, aber – und das ist ein ganz essentieller Punkt – um dieses Ziel zu erreichen, ist das Wirtschaftswachstum eine der wichtigsten Grundvoraussetzungen.
Verschiedene Formen des wirtschaftlichen Wachstums
Doch eins nach dem andern. Grundsätzlich lassen sich zunächst verschiedene Formen des Wachstums unterscheiden: das reale, das nominale, das quantitative und das qualitative Wachstum. Das reale Wachstum beschreibt die Zunahme des Bruttoinlandsprodukts (BIP) – die Gesamtheit gerechnet in den konstanten Preisen eines Basisjahres. Hier findet also eine Bereinigung um die Inflation statt. Das nominale Wachstum wird nicht um die Preisniveauentwicklung bereinigt. So weit so üblich und so oft in der Zeitung gelesen. Für die Diskussion um Sinn und Unsinn eines immerwährenden Wachstums in einer räumlich und den Ressourcen nach begrenzten Welt ist aber die letztgenannte Unterscheidung wichtiger. Das quantitative Wachstum beschreibt – wie der Name es sagt – die mengenmäßige Zunahme der Produktion in einem Land. Beim qualitativen Wachstum hingegen liegt der Fokus auf der wertmäßigen Vermehrung der Produktion – also dass es nicht immer mehr, sondern immer besser wird.
Gutes Wachstum, schlechtes Wachstum?
Das, was berechtigterweise in der öffentlichen Kritik steht, ist eine unbeirrte Fortsetzung des rein quantitativen Wachstums. Es wird gleichgesetzt mit einem unbegrenzten Wachstum um jeden Preis, ohne Rücksicht auf die Endlichkeit natürlicher Ressourcen. Dass dieses Wachstum auf vielerlei Ebenen nicht mehr zeitgemäß ist (zumindest in der westlichen Welt), darüber sind sich die allermeisten einig. Daraus aber den Schluss zu ziehen, dass auf jedwedes Wirtschaftswachstum zu verzichten ist, kann keine Lösung sein. Vielmehr sollten wir uns auf die Chancen des qualitativen Wachstums fokussieren.
So sieht qualitatives Wachstum aus
Doch was bedeutet qualitatives Wachstum konkret? Nehmen wir beispielsweise den Rindfleischkonsum. Die Qualität des Fleisches steigt, wenn die Tiere artgerechter gehalten werden. Durch diese bessere Haltung steigen aber die Kosten und damit auch die Fleischpreise, sagen wir mal um 30 %. Dies kommt einer wertmäßigen, qualitativen Erhöhung des Wachstums gleich. Selbst wenn wir weiterhin annehmen, dass aufgrund der gestiegenen Preise die Absatzmenge um 20 % sinkt (also kein mengenmäßiges Wachstum, sondern sogar eine Schrumpfung vorliegt), kommt es noch immer zu qualitativem Wachstum, wie die Berechnung in der Grafik zeigt. Und ein solches qualitatives Wachstum ist in allen Bereichen unserer Wirtschaft möglich und findet schon immer statt.
Gesellschaftliche Wohlfahrt braucht Wirtschaftswachstum
Wachstum muss also nicht zwingend „immer mehr“ bedeuten, sondern kann (und sollte) ein „immer besser“ ermöglichen. Ein solches Wachstum muss und sollte keinesfalls begrenzt oder gar vollständig vermieden werden. Denn: Wirtschaftliches Wachstum ist wie eingangs geschildert kein Selbstzweck, sondern hat eine ganz zentrale Funktion – es ermöglicht die gesellschaftliche Wohlfahrt. Wichtig ist dabei aber durchaus, dass das Mehr an Wachstum für die Allgemeinheit der Gesellschaft auch etwas bringen muss, denn Wachstum allein löst noch keine gesellschaftlichen Probleme. Wie Wachstum die Voraussetzungen für die Wohlfahrt einer Gesellschaft schafft, das hören Sie in meinem Podcast „klug anlegen“ Anfang August. Hier aber schon mal ein paar Beispiele, die mit für den Wohlstand unserer Gesellschaft sorgen, auch wenn uns das vielleicht nicht immer so bewusst ist:
Und diese sozialen Errungenschaften, die kann man sich als Gesellschaft eben umso einfacher leisten, je stärker die Wirtschaft stetig wächst. Oder andersherum gesagt: Ohne wirtschaftliches Wachstum wird es immer schwerer, soziale Absicherung und damit auch Wohlstand für breite Bevölkerungsschichten zu ermöglichen. Denn: Wachstum bedeutet ja, dass in einer Periode mehr (an Menge oder eben Wert) von etwas vorhanden ist als in der Periode zuvor. Und das bedeutet eben auch, dass dieses „Mehr" auch für Soziales, für die großen gesellschaftlichen Ziele von Sicherheit und Freiheit oder auch für Gesundheit und Chancengleichheit zur Verfügung stehen kann. Ohne Wachstum hingegen können diese Ziele nur mit mehr Ressourcen verfolgt werden, indem man einigen oder allen in der Gesellschaft etwas von dem wegnimmt, was sie bereits hatten. Wachstum ermöglicht, diese Bemühungen aus Ressourcen zu bestreiten, die es zuvor noch gar nicht gegeben hat!
Positive Folgen von Wirtschaftswachstum
Dass wirtschaftliches Wachstum grundsätzlich jede Menge positiver Folgen für die betreffende Nation oder Region hat, sieht man anhand der Entwicklung in den Schwellenländern weltweit besonders eindrucksvoll (bei den Industrieländern müsste man 200 Jahre in der Geschichte zurückgehen – und da gibt es nur sehr wenige Daten). Dort ist in den letzten Jahrzehnten in Sachen Alphabetisierung, Kindersterblichkeit sowie bei der Wasser- und Nahrungsversorgung viel Positives passiert, wie die folgenden Beispiele zeigen, bei denen sich globale Verbesserungen aufgrund der rasanten Entwicklung der Schwellenländer ergeben haben:
Die grundlegenden Möglichkeiten hierfür sind durch das rasante Wachstum der Schwellenländer gelegt worden – auch wenn natürlich noch Enormes zu tun bleibt und das Wachstum auch dort in den vergangenen Jahrzehnten stark zulasten unseres Planeten gegangen ist.
Fassen wir also zusammen: Wirtschaftliches Wachstum ist also nicht nur eine wesentliche Grundlage für gesellschaftlichen Wohlstand und soziale Absicherung, sondern auch für die Sicherstellung so grundlegender und wichtiger Ziele wie Sicherheit, Frieden und Freiheit. Dass uns dabei mehr denn je bewusst sein muss, dass die natürlichen Ressourcen unserer Erde begrenzt sind und wir mit allem, was wir tun, Spuren hinterlassen, steht außer Frage. Wachstum können wir deshalb nicht mehr um jeden Preis anstreben, sondern nachhaltig, ressourcenschonend – qualitativ. Und auch aus Anlegersicht ist Wirtschaftswachstum maßgeblich, denn es ist der entscheidende Treiber für die positiven Renditeperspektiven am Kapitalmarkt, vor allem bei Aktien. Doch nur mit qualitativem Wachstum profitieren wir alle gemeinsam – von einer lebenswerten Zukunft, von Wohlstand und Wohlfahrt, von attraktiven Renditen – für und mit unseren (viel zu schnell groß werdenden) Kindern.
Autor: Karl Matthäus Schmidt, Vorstandsvorsitzender der Quirin Privatbank und Gründer von quirion
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