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Staatsverschuldung – „Point of no Return“ bereits überschritten?

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Der Blick in die obligatorischen täglichen Statistiken stimmt ja mittlerweile durchaus wieder positiv, denn die Corona-Inzidenzen in Deutschland liegen seit einiger Zeit durchgängig unter 20. Dementsprechend ist nun auch endlich wieder ein Mehr an öffentlichem Leben möglich. Erfreulich viele Orte dieses öffentlichen Lebens – Restaurants, Cafés, Kulturstätten – öffnen wieder ihre Pforten – bzw. es bereiten sich viele Geschäfte, die lange Zeit geschlossen waren, auf den lang ersehnten Neustart vor. Erkauft wurde dieses (sehr mühsame und sorgenbeladene) Überleben vieler Betriebe und Kultureinrichtungen in erster Linie durch die massiven staatlichen Stützungsmaßnahmen der letzten Monate – sprich es wurde sehr viel Geld in die Hand genommen, um eine großflächige Pleitewelle zu verhindern. Diese Stützungsmaßnahmen waren überwiegend schuldenfinanziert. Daher ist in den letzten Monaten, parallel zur alles überlagernden Corona-Pandemie, eine weitere Befürchtung hinzugetreten, nämlich die einer ausufernden und letztlich nicht mehr beherrschbaren Staatsverschuldung. Diese Befürchtung artikuliert sich immer häufiger in der Frage: „Wer soll das bezahlen?“

Sanddüne

Corona hat in vielen Ländern die vorher schon angespannte Schuldensituation weiter verschärft

Insbesondere hierzulande wächst diese Sorge (ähnlich wie seinerzeit bei der Finanz- und Eurokrise) – weniger mit Blick auf die eigenen nationalen Schuldenstände, sondern vielmehr vor dem Hintergrund der angespannten Schuldensituation unserer (meist südlichen) europäischen Nachbarn, durchaus aber auch hinsichtlich der hohen Schuldenberge in den USA und in Japan.

Damals wie heute ist der Grund hierfür: Bereits vor Ausbruch der Coronakrise und der daraus resultierenden massiven Schuldenaufnahme für die erwähnten Stützungsprogramme war der Schuldenstand international sowie bei vielen europäischen Nachbarn deutlich höher als in Deutschland. Allen voran Italien und Spanien wiesen schon Anfang 2020 (zu Beginn der Corona-Pandemie) eine an der jährlichen Wirtschaftsleistung (dem Bruttoinlandsprodukt – kurz: BIP) gemessene Schuldenstandsquote aus, die deutlich über (Italien) oder nur knapp unter (Spanien) 100 % lag. Inzwischen hat auch Spanien diese Schwelle überschritten, in Italien liegt die Schuldenstandsquote nun sogar bei gut 150 %. Parallel zu den rasant steigenden Schuldenbergen speziell in den südeuropäischen Ländern wächst in Deutschland die Sorge, dass diese Schulden eines Tages im Rahmen der EU „vergemeinschaftet“ werden könnten.

Erinnert sich noch jemand an Maastricht?

Im Maastricht-Vertrag von 1992 wurden Kriterien für den Beitritt eines Landes zur Währungsunion festgelegt, bekannt auch als „Maastricht-Kriterien“. Diese umfassten Obergrenzen für das öffentliche Defizit sowie für den Schuldenstand. So wurde seinerzeit festgelegt: Der Schuldenstand eines EU-Mitglieds darf 60 % (!) des BIP nicht übersteigen. Eine Quote, die für viele EU-Länder mittlerweile in unerreichbare Ferne gerückt zu sein scheint.

Ausgewählte Schuldenstandsquoten

Diskutable Berechnungsmethode

Die Befürchtungen, welche diese schwindelerregenden Zahlen auslösen, sind nur allzu verständlich. Legen sie doch den Schluss nahe, dass viele Länder schon weit mehr Schulden aufgenommen haben, als für sie tragbar ist. Insbesondere Schuldenquoten von über 100 % suggerieren, dass damit quasi eine unsichtbare rote Linie überschritten wurde, jenseits derer eine Rückführung der Schulden fast nicht mehr möglich ist. Dies ist jedoch eine Fehlinterpretation, die weniger über die tatsächliche Tragfähigkeit staatlicher Schulden aussagt als vielmehr ein weiteres Mal deutlich macht, wie unzulänglich bestimmte Messgrößen sind – insbesondere auch die Schuldenstandsquote –, mit denen wir gemeinhin die Größenordnung der Staatsverschuldung messen. Hier wird nämlich, wie schon kurz erwähnt, der aktuelle Schuldenstand eines Staates (in Deutschland Ende 2020 etwa 2,3 Bio. Euro) ins Verhältnis zur aktuellen Wirtschaftsleistung gesetzt bzw. zur gesamtwirtschaftlichen Produktion eines Jahres (BIP in Deutschland 2020 gut 3,3 Bio. Euro), was für Deutschland eine Schuldenstandsquote von rund 69 % für das Jahr 2020 bedeutet (die aber deutlich steigen wird).

Der Vorteil solch einer „knackigen“ Verhältniszahl – und damit letztlich auch der Grund, warum sie verwendet wird –, liegt vor allem in der Möglichkeit internationaler Vergleiche. Aufgrund der Berechnungsweise und der daraus resultierenden Prozentangabe können Schuldenstände weitgehend unabhängig von Größe und Wirtschaftsleistung eines Landes untereinander verglichen werden. Die Krux aber ist hierbei: Der Vergleichsmaßstab, der hierfür herangezogen wird – die jährliche Wirtschaftsleistung, gemessen als BIP –, ist aus ökonomischer Sicht nicht die ideale Wahl.

Stellen Sie sich bitte einmal vor: Die Frage, ob Sie als Unternehmer oder auch privater Haushalt überschuldet sind, würde ausschließlich danach beurteilt, wie hoch Ihre Verschuldung prozentual gegenüber Ihrem laufenden Jahreseinkommen ausfällt. Als Resultat dieser Berechnungsmethode wäre beispielsweise die überwältigende Mehrheit aller Eigenheimbesitzer überschuldet. Denn der angewendete Quotient ignoriert, dass das Ausmaß der Verschuldung sinnvollerweise am Gesamtvermögen gemessen werden sollte, das dieser Verschuldung gegenübersteht, d. h. im Falle der Staatsschulden: am Vermögen der öffentlichen Hand.

Nur: Was betriebswirtschaftlich oder privat relativ einfach zu bewerkstelligen ist, entpuppt sich volkswirtschaftlich als schier unlösbare Aufgabe. Das gesamte Vermögen einer Volkswirtschaft auch nur annähernd (und vor allem aktuell!) zu erfassen, ist nahezu ein Ding der Unmöglichkeit. Dies gilt umso mehr, wenn es um den Wert des Staatsvermögens geht.

Trotz der enormen Schwierigkeiten, die mit der erwähnten Erhebungsmethode verbunden sind, gibt es Versuche, diesen Wert zumindest annäherungsweise zu erfassen. Auch wir haben eine entsprechende Schätzung durchgeführt und kommen dabei auf einen „Ertragswert der öffentlichen Hand“ in Höhe von rund 18,34 Bio. Euro. Diese Schätzung wurde unter Zugrundelegung einer Reihe stark vereinfachender Annahmen[1] durchgeführt, von denen jede einzelne mit durchaus berechtigten Argumenten angezweifelt werden kann. Nichtsdestotrotz ist auch eine derart grobe Schätzung sinnvoll, weil damit zumindest die Größenordnungen (ansatzweise) sichtbar werden, von denen hier die Rede ist. Der entscheidende Punkt ist also weniger, ob der konkrete Wert nun rund 18 Bio. Euro beträgt – oder 15 oder gar 25 Bio. Euro. Viel wichtiger ist die enorme Größenordnung, von der wir hier reden und wie diese sich im Verhältnis zum aktuellen Schuldenstand des Staates darstellt.

Setzt man nun die Höhe der Staatsschulden ins Verhältnis zu dem von uns ermittelten Wert, so ergibt sich ein völlig anderes Bild als das, welches durch die herkömmliche Schuldenstandsquote gezeichnet wird.

Deutsche Schuldenstandsquote aus zwei Blickwinkeln

Festhalten an der alten Berechnungsmethode

Nicht zuletzt aufgrund der mit derartigen Schätzungen verbundenen Unwägbarkeiten und potenziellen Konfliktfelder – man denke nur an entsprechende langwierige Diskussionen innerhalb der EU – hat man sich schon vor Jahrzehnten dazu entschieden, die Staatsverschuldung prozentual an der jährlichen Wirtschaftsleistung zu messen (die relativ leicht zu ermitteln ist, für deren Bestimmung es schon lange international etablierte Standards gibt und die stets recht aktuell vorliegt). Damit lassen sich dann zeitnahe Aussagen zur Entwicklung der Verschuldung ableiten und gegebenenfalls rechtzeitige wirtschafts- und finanzpolitische Reaktionen einleiten.

Berücksichtigt man aber die hier dargestellten Zusammenhänge, wird die magische Schwelle von 100 % Schuldenstandsquote mehr oder weniger bedeutungslos und (zu Recht) ihres Schreckens beraubt. Von daher sind aus unserer Sicht auch Berichte völlig übertrieben, die derzeit immer mal wieder kursieren und nach denen viele Staatshaushalte unter der aktuellen Schuldenlawine zu kollabieren drohen.

Staatsschulden trotzdem nicht auf die leichte Schulter nehmen

Doch wir wollen an dieser Stelle nicht falsch verstanden werden: Wir glauben nicht, dass der fortdauernde Anstieg der weltweiten Staatsverschuldung ohne negative Auswirkungen beliebig möglich ist. Bleiben wir beim Beispiel des privaten Haushalts: Ein Haushalt, der eine Verschuldung aufweist, deren Tilgungsaufwände höher als das laufende Einkommen ist, dem aber gleichzeitig kein Vermögen gegenübersteht, z. B. das selbst bewohnte Haus oder ein Wertpapierdepot, dürfte tatsächlich zunehmende Probleme bekommen, seinen Schuldendienst ordnungsgemäß zu leisten und die Schulden langfristig auch abzubauen. Im übertragenen Sinne bedeutet das: Staatsverschuldung sollte zuallererst immer in Verwendungen fließen, die auch produktives Vermögen (z. B. in Form von Verkehrsinfrastruktur, Schulen usw.) aufbaut. Damit ist dann auch sichergestellt, dass ausreichend Einkommen, d. h. BIP, erwirtschaftet wird, so dass Schuldendienste auch bei höheren Verschuldungsniveaus geleistet werden können. 

Die in den letzten Monaten ausgeuferten globalen Staatsschulden sind also in jedem Falle ernst zu nehmen. Unkenrufe jedoch, nach denen die Mehrzahl der weltweiten Staatshaushalte die Grenzen nachhaltigen Wirtschaftens durch überbordende Verschuldung längst überschritten haben und wir bereits einen „Point of no Return“ erreicht hätten, sind aber überzogen. Viel wichtiger, als die derzeit stark steigende Verschuldung zu kritisieren – die wie schon geschildert maßgeblich für den bisher recht glimpflichen konjunkturellen Einbruch in Folge der Coronakrise verantwortlich ist –, wäre es daher, darauf hinzuarbeiten, dass die jüngst entstandene Verschuldung durch starkes Wirtschaftswachstum und Haushaltsdisziplin in den nächsten Jahren wieder nachhaltig abgebaut wird. Vor allem für kommende Krisen entstünde so ein gewisser Puffer, der Regierungen handlungsfähig bleiben ließe. Die Vergangenheit hat allerdings auch allzu oft gezeigt, wie schwer sich Politiker (die schließlich wiedergewählt werden wollen) mit staatlichen Kürzungsprogrammen tun.

Ohne Vertrauen geht’s nicht

Und damit sind wir an einem Punkt, den wir auch an anderer Stelle immer wieder betonen: dem Vertrauen. Staatsverschuldung – in welcher Höhe auch immer – wird spätestens dann zu einem ernsthaften Problem, wenn sie zu einer Erosion des Vertrauens der Bevölkerung in die Solidität und Seriosität staatlichen Handelns führt. Davon sind wir derzeit – auch international – noch recht weit entfernt. Trotzdem sollte dieses Vertrauen nicht leichtfertig aufs Spiel gesetzt, sondern sorgfältig gepflegt werden. Wenn derzeit also zu Recht über die Frage diskutiert wird, ob angesichts der nötigen Investitionen in die öffentliche Infrastruktur die Schuldenbremse gelockert werden müsste, dann sollte das mit viel Augenmaß geschehen und nicht in der (vertrauensmindernden) Forderung münden, sie wieder gänzlich abzuschaffen. Und auch in Europa ist bei aller Notwendigkeit von fiskalischer Solidarität im Auge zu behalten, dass aus der Europäischen Union keine reine Transferunion wird, die Missstände nicht mehr beseitigt, sondern zementiert. Anderenfalls gilt in Anlehnung an ein Zitat Willy Brandts: „Vertrauen ist nicht alles, aber alles ist nichts ohne Vertrauen.“

Autor: Prof. Dr. Stefan May, Leiter Anlagemanagement der Quirin Privatbank, und sein Team

 

Möchten Sie noch mehr zu dem Thema erfahren, hören Sie die passende Podcastfolge „Ein Jahr Corona – Die Börsen feiern, aber wer zahlt die Rechnung?“.

[1] Ausgangspunkt unserer Schätzung ist die Überzeugung, dass eine funktionierende staatliche Infrastruktur neben Arbeit und Kapital (inkl. Boden) einen zusätzlichen (und notwendigen) Produktionsfaktor darstellt. Weiter gehen wir davon aus, dass sich der ökonomische Wert der Gesamtheit aller Produktionsfaktoren ausschließlich aus seinem Potenzial ableitet, eine jährliche Wertschöpfung in Form des BIP zu erzielen. Unterstellen wir hierbei – abgeleitet aus historischen Aktienmarktrenditen – eine jährliche „Wertschöpfungsrendite“ von 6 %, so ergibt sich bei einem BIP-Volumen von rund 3,3 Bio. Euro ein ökonomischer Ertragswert aller volkswirtschaftlichen Produktionsfaktoren (inkl. Faktor Staat) von rund 55 Bio. Euro. Geht man weiter davon aus, dass davon ein rundes Drittel auf die öffentliche Hand entfällt, ergibt sich für eine funktionierende staatliche Infrastruktur im weitesten Sinne ein Ertragswert der öffentlichen Hand von rund 18,34 Bio. Euro.

Disclaimer/rechtliche Hinweise

Der Beitrag ist mit größter Sorgfalt bearbeitet worden. Er enthält jedoch lediglich unverbindliche Analysen und Erläuterungen. Die Angaben beruhen auf Quellen, die wir für zuverlässig halten, für deren Richtigkeit, Vollständigkeit und Aktualität wir aber keine Gewähr übernehmen können. Die Informationen wurden einzig zu Informations- und Marketingzwecken zur Verwendung durch den Empfänger erstellt und können keine individuelle anlage- und anlegergerechte Beratung ersetzen.

Die Informationen stellen keine Anlage- Rechts- oder Steuerberatung, keine Anlageempfehlung und keine Aufforderung zum Erwerb oder zur Veräußerung dar. Die Vervielfältigung und Weiterverbreitung ist nicht erlaubt. Kein Teil darf (auch nicht auszugsweise) ohne unsere ausdrückliche vorherige schriftliche Genehmigung nachgedruckt oder in ein Informationssystem übertragen oder auf irgendeine Weise gespeichert werden, und zwar weder elektronisch, mechanisch, per Fotokopie noch auf andere Weise.

[1] Ausgangspunkt unserer Schätzung ist die Überzeugung, dass eine funktionierende staatliche Infrastruktur neben Arbeit und Kapital (inkl. Boden) einen zusätzlichen (und notwendigen) Produktionsfaktor darstellt. Weiter gehen wir davon aus, dass sich der ökonomische Wert der Gesamtheit aller Produktionsfaktoren ausschließlich aus seinem Potenzial ableitet, eine jährliche Wertschöpfung in Form des BIP zu erzielen. Unterstellen wir hierbei – abgeleitet aus historischen Aktienmarktrenditen – eine jährliche „Wertschöpfungsrendite“ von 6 %, so ergibt sich bei einem BIP-Volumen von rund 3,3 Bio. Euro ein ökonomischer Ertragswert aller volkswirtschaftlichen Produktionsfaktoren (inkl. Faktor Staat) von rund 55 Bio. Euro. Geht man weiter davon aus, dass davon ein rundes Drittel auf die öffentliche Hand entfällt, ergibt sich für eine funktionierende staatliche Infrastruktur im weitesten Sinne ein Ertragswert der öffentlichen Hand von rund 18,34 Bio. Euro.

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