Die weltweiten Aktienmärkte befinden sich derzeit nahe an oder sogar auf ihren historischen Höchstständen.
Diese Situation lässt viele Anleger, die sich eigentlich bereits für ein Aktieninvestment entschieden haben, zögern, in den Markt einzusteigen. Manche, die bereits investiert sind, erwägen sogar, diese Höchststände für einen Ausstieg zu nutzen, um dann – so die Idee –, wenn der Markt nachgegeben hat, wieder einzusteigen und dadurch die Renditeperspektiven zu verbessern.
Der Hintergrund beider Erwägungen ist sehr häufig die Annahme, dass es nach einem Allzeithoch, wie wir es derzeit vor uns haben, mit den Kursen eigentlich nur noch abwärtsgehen könne bzw. dass nun die Wahrscheinlichkeit für fallende Kurse besonders hoch sei. Nach unserer Überzeugung liegt dem jedoch häufig eine falsche Vorstellung davon zugrunde, wie es sich mit der langfristigen und trendmäßigen Aktienmarktentwicklung tatsächlich verhält. Manchmal hat man sogar den Eindruck, dass offenbar viele Anleger glauben, dass der Aktienmarkt auf mittlere bis lange Sicht eine Art Nullsummenspiel ist, was bedeuten würde, dass die Gewinne des einen zwangsläufig die Verluste eines anderen sein müssen.
Aktienmarktentwicklungen – ohne und mit Aufwärtstrend
Ein solches Nullsummenspiel würde für die Kursentwicklung bedeuten, dass der Trend eines Aktienmarktes nicht nach oben gerichtet ist, sondern letztlich seitwärts verläuft, wie in der folgenden Abbildung beispielhaft dargestellt. Hier wurde – ausgehend vom normierten Wert 100 – die Entwicklung eines Aktienmarktes am Beispiel des amerikanischen S&P 500 Index über einen Zeitraum von 70 Jahren hinweg stochastisch (d. h. mit Zufallswerten) simuliert. Dabei wurde eine Volatilität (Schwankungsbreite) von 20 % p. a. zugrunde gelegt sowie ein langfristig zu erwartender Wertzuwachs (Rendite) von null. Beides gemeinsam führt zu der dargestellten heftig schwankenden Entwicklung ohne erkennbare Richtung, d. h. ohne Trend.
Die Abbildung verdeutlicht, dass in einem solchen hypothetisch trendlosen Aktienmarkt ein historisches Allzeithoch tatsächlich etwas ganz Besonderes wäre. Im dargestellten Beispiel wird es sogar über den gesamten Zeitraum hinweg nie wieder erreicht. Hier wäre es in der Tat wirklich ratsam, auszusteigen. Auch in anderen derartigen Simulationen eines Umfelds ohne Aufwärtstrend besteht nur eine sehr geringe Wahrscheinlichkeit, dass ein ausgeprägtes Hoch innerhalb einer überschaubaren Zeitspanne jemals wieder erreicht oder gar übertroffen wird.
Haben wir es dagegen mit einer Entwicklung zu tun, die der Realität weltweiter Aktienmärkte und damit einem nach oben gerichteten Trend folgt – wie in der folgenden Abbildung dargestellt –, dann ist die Situation eine völlig andere. In dem Fall ist es keine Frage der Wahrscheinlichkeit mehr, sondern es ist so gut wie sicher, dass jedes Allzeithoch über kurz oder lang übertroffen wird.
Wie schon die erste zeigt auch diese Abbildung eine stochastisch simulierte Aktienmarktentwicklung über einen Zeitraum von 70 Jahren. Allerdings wurde nun ein positiver Trend mit einer zu erwartenden Wertentwicklung von 7 % p. a. zugrunde gelegt. Die Volatilität von 20 % p. a. wurde beibehalten.
Sehr deutlich zu erkennen ist, dass sich in diesem Fall – anders als bei einer Entwicklung ohne Trend – laufend Allzeithochs herausbilden, welche anschließend schon nach kurzer Zeit wieder übertroffen werden. Dieses Phänomen zeigt sich übrigens nicht nur in unserer Simulation, sondern auch an den realen Finanzmärkten. So ergibt eine Untersuchung des US-Aktienmarktes der letzten 95 Jahre[1], dass es sich bei einem runden Drittel aller Monatsendstände des S&P 500 Indexes um historische Höchststände handelte. Ein Allzeithoch ist bei einem vorliegenden Aufwärtstrend somit nichts Besonderes, sondern fast der Normalfall. Das Allzeithoch in unserem Simulationsbeispiel unmittelbar vor dem scharfen Einbruch bildet hier eine Ausnahme, da es bis zum Ende der Simulation nicht übertroffen wurde und daher zunächst wie eine günstige Ausstiegsmöglichkeit erscheint. Aber: Schrieben wir die Entwicklung weiter fort, würde sich aufgrund des aufwärtsgerichteten Langfristtrends – unter weiter spürbaren Schwankungen – auch diese Phase als vorübergehend erweisen und es würden neue Allzeithochs folgen.
Es bleibt daher festzuhalten: Wenn Aktienmärkte einen langfristigen Aufwärtstrend aufweisen (und das tun sie in der Realität, mehr dazu nachfolgend), dann ist es nur eine Frage der Zeit, bis jedes Allzeithoch wieder eingeholt und übertroffen wird.
Optische Täuschungen
Häufig führt ein weiterer Umstand dazu, dass Allzeithochs an den Aktienmärkten als zwingende oder besonders günstige Zeitpunkte zum Aussteigen bzw. Abwarten fehlinterpretiert werden. Zum Hintergrund: Den üblichen grafischen Darstellungen der Entwicklung von Aktienkursen, Indexständen, Depotwerten usw. liegt eine sogenannte lineare Skalierung (Standard-Skalierung) zugrunde. Dies bedeutet, dass auf der vertikalen Achse der Grafik (der sogenannten y-Achse) gleiche absolute Veränderungen des dargestellten Wertes auch dieselbe Strecke auf der y-Achse beanspruchen. Für die Darstellung eines Indexes heißt dies beispielsweise konkret, dass ein Anstieg von 1.000 auf 2.000 Indexpunkte auf der vertikalen Achse dieselbe Strecke einnimmt wie ein Anstieg von 10.000 auf 11.000 Indexpunkte – und dies, obwohl das erste Beispiel einem (relativen) Zuwachs von 100 % entspricht und das zweite lediglich einem von 10 %.
Vor allem in Darstellungen langfristiger historischer Kursentwicklungen bewirkt eine solche lineare Skalierung daher eine Verzerrung dahingehend, dass weit in der Vergangenheit liegende Schwankungen im Vergleich zu jüngeren Schwankungen nur sehr wenig ausgeprägt erscheinen und damit im Grunde verharmlost werden. Aktuelle Entwicklungen erscheinen dagegen besonders drastisch und werden somit übertrieben. Betrachten Sie bitte noch einmal die letzte Abbildung, die linear skaliert ist: Aufgrund der Veranschaulichung könnte man vermuten, dass vor 1990 fast keine oder nur sehr geringe Bewegungen stattgefunden haben. Auch entsteht durch die lineare Skalierung der falsche Eindruck, dass das jeweils jüngste Allzeithoch besonders ausgeprägt ist und sich mit Abstand am weitesten vom zugrundeliegenden Trend entfernt hat.
In beiden Fällen handelt es sich aber um optische Täuschungen, welche durch die lineare Skalierung hervorgerufen werden. Sie sind besonders stark, wenn in entsprechenden Grafiken Entwicklungen über sehr lange Zeiträume hinweg dargestellt sind.
Um Fehlinterpretationen aufgrund dieser Täuschungen zu vermeiden, wird in der professionellen Praxis (aber eben leider oft nicht in gängigen Informationsquellen für die breite Öffentlichkeit wie z. B. Tageszeitungen) die sogenannte logarithmische Skalierung verwendet, die auch als Verhältnis-Skalierung bezeichnet wird. Diese zeichnet sich dadurch aus, dass auf der Vertikalachse nicht gleiche absolute Veränderungen die gleiche Strecke beanspruchen, sondern gleiche prozentuale Veränderungen. Man betrachte hierzu die folgende Abbildung, in der genau dieselbe Wertentwicklung wie in der vorangegangenen Abbildung dargestellt ist, nur eben in logarithmischer Skalierung. Auf der vertikalen Achse sieht man, dass der Sprung von 640 auf 6.400 dieselbe Strecke einnimmt wie der Sprung von 6.400 auf 64.000. Grund: Es handelt sich um dieselbe prozentuale Veränderung, nämlich um eine Verzehnfachung.
Eine logarithmische Skalierung bewirkt somit, dass die Schwankungen von Kursen und Indizes aus allen Zeiträumen – auch die aus weit zurückliegenden – gleichberechtigt dargestellt werden; die optische Täuschung geringerer Volatilitäten in der Vergangenheit sowie die Übertreibung aktueller Ausschläge wird dadurch vermieden.[2]
Es bleibt also festzuhalten: Der häufig entstehende Eindruck, dass die aktuellen Höchststände des Aktienmarktes besonders ausgeprägt sind, beruht auf einer optischen Täuschung, welche durch die Linearskalierung der entsprechenden Grafiken verursacht wird. Tatsächlich sind Allzeithochs am Aktienmarkt nichts Besonderes und werden so gut wie sicher über kurz oder lang wieder eingeholt. Dies allerdings wie gesagt nur, wenn Aktienmärkte tatsächlich einen positiven Langfristtrend aufweisen.
Wirtschaftswachstum als Aktienmarkt-Trendfaktor
Aber wie sieht es denn nun in der Realität mit diesem positiven Trend aus? Die Beantwortung dieser Frage ist ganz wesentlich für die Kapitalanlage. Denn die Empfehlung an (potenzielle) Anleger, sich durch ein Allzeithoch nicht davon abhalten zu lassen, am Aktienmarkt zu investieren, kann man im Grunde nur verantworten, wenn man davon überzeugt ist, dass die Kurse tatsächlich einem nach oben gerichteten Trend folgen. Und genau dies ist nach unserer Einschätzung der Fall und gilt insbesondere für die Entwicklung des gesamten globalen Aktienmarktes.[3]
Die Basis jedes langfristigen Aktienmarkttrends ist das Wirtschaftswachstum. Dies ergibt ökonomisch Sinn und wird auch von der empirischen Finanzmarktforschung bestätigt. Und damit sind wir beim Wachstum des Bruttoinlandsprodukts (BIP) angelangt, d. h. bei der Kennzahl, die am häufigsten verwendet wird, wenn die Leistungsfähigkeit und dir Wachstumskräfte einer Volkswirtschaft gemessen werden sollen.
Somit gilt: Das Wachstum des BIP einer Volkwirtschaft ist also der Trendfaktor, an dessen Entwicklung sich die Gesamtheit der Aktienkurse letztlich ausrichtet. Zwar schwanken sie mehr oder weniger heftig um diesen Trendfaktor herum, letztlich jedoch sind die Kurse nach oben gerichtet, weil auch die Wirtschaft beständig wächst.
Die folgende Abbildung zeigt (natürlich logarithmisch skaliert) diesen Zusammenhang anhand des Wachstums des BIP der USA als der weltweit größen Volkswirtschaft sowie des breiten amerikanischen Aktienmarktindexes S&P 500.
Der in dieser Abbildung dargestellte faktische Zusammenhang bestätigt, was in den beiden vorausgehenden Abbildungen nur theoretisch simuliert wurde: dass sich die Aktienkurse nämlich in ihrer Gesamtheit entlang eines langfristig wirkenden Trends immer wieder nach oben bewegen. Dieser Trend wiederum wird im Wesentlichen durch das Wachstum der zugrundeliegenden Volkswirtschaft bestimmt – und im globalen Kontext durch das Wachstum der Weltwirtschaft. Die Abbildung macht aber auch deutlich, dass sich die Kursentwicklung vorübergehend vom zugrundeliegenden Trend abkoppeln und auch über längere Zeiträume hinweg über- und unterschießen kann. Zwar legt die letzte Abbildung hinsichtlich dieser Trendabweichungen eine gewisse Regelmäßigkeit nahe, trotzdem gibt es aber keine Möglichkeit, die Länge der entsprechenden Phasen zu prognostizieren.
Wir wissen also, dass Aktienkurse insgesamt immer steigen werden, wir wissen nur nicht, wann. Das ist aber zu verschmerzen, wissen wir doch damit, dass jedes Tief am Aktienmarkt überwunden und jeder Höchststand über kurz oder lang durch noch höhere Kurse entthront wird. Die derzeit so viel beschworenen Allzeithochs verlieren damit vollkommen ihren Schrecken als Einstiegsbremse: Aus einer langfristigen Perspektive – und echtes Investieren sollte immer eine solche mehr oder weniger langfristige Perspektive haben – ist die entscheidende Frage nicht, wann, sondern dass investiert worden ist. Denn wie stark auch immer die weltweiten Aktienmärkte zwischenzeitlich nach oben oder unten schwanken, mit strategischen Investitionen lassen sich letztlich in aller Regel angemessene Renditen erzielen.
Autor: Prof. Dr. Stefan May, Leiter Anlagemanagement der Quirin Privatbank, und sein Team
Hierzu empfehlen wir Ihnen auch unsere thematisch passende Podcast-Folge „Der beste Einstiegszeitpunkt ist immer jetzt“.
Für diejenigen unter Ihnen, die noch mehr zu dem Thema lesen möchten, bietet sich unsere Studie „Die Kraft globaler Finanzmärkte effizient nutzen“ an.
[1] Quelle: Dimensional Fund Advisors
[2] Auch die optische Täuschung aufgrund einer Linearskalierung dürfte zum großen Teil auf die häufig geäußerte Überzeugung zurückzuführen sein, dass die Märkte „früher“ viel weniger volatil und von daher leichter einzuschätzen waren.
[3] Grundsätzlich gilt auch für Einzelwerte, dass sie einem Trend folgen. Der große Unterschied zu einem nationalen Gesamtmarkt oder gar zum weltweiten Aktienmarkt besteht darin, dass dieser Trend für eine einzelne Aktie durch das Zuschlagen sogenannter unsystematischer Risiken, d. h. durch Ereignisse, welche sich im Unternehmen hinter der Aktie abspielen, jederzeit gebrochen werden kann (bis hin zum Totalverlust). Ein solcher „Trendbruch“ ist schon bei nationalen Indizes in höchstem Maße unwahrscheinlich, für den Welt-Aktienmarkt dagegen ist er so gut wie ausgeschlossen, weil dies in der Konsequenz bedeutet, dass die Marktwirtschaft insgesamt am Ende wäre.
Disclaimer/rechtliche Hinweise
Der Beitrag ist mit größter Sorgfalt bearbeitet worden. Er enthält jedoch lediglich unverbindliche Analysen und Erläuterungen. Die Angaben beruhen auf Quellen, die wir für zuverlässig halten, für deren Richtigkeit, Vollständigkeit und Aktualität wir aber keine Gewähr übernehmen können. Die Informationen wurden einzig zu Informations- und Marketingzwecken zur Verwendung durch den Empfänger erstellt und können keine individuelle anlage- und anlegergerechte Beratung ersetzen.
Die Informationen stellen keine Anlage- Rechts- oder Steuerberatung, keine Anlageempfehlung und keine Aufforderung zum Erwerb oder zur Veräußerung dar. Die Vervielfältigung und Weiterverbreitung ist nicht erlaubt. Kein Teil darf (auch nicht auszugsweise) ohne unsere ausdrückliche vorherige schriftliche Genehmigung nachgedruckt oder in ein Informationssystem übertragen oder auf irgendeine Weise gespeichert werden, und zwar weder elektronisch, mechanisch, per Fotokopie noch auf andere Weise.