Mit dieser – zugegebenermaßen etwas reißerischen – Schlagzeile hätten Sie wohl nicht gerechnet! Zum einen, weil es jetzt ja schließlich doch (mal wieder) eine politische Einigung gegeben hat, die die Zahlungsfähigkeit des US-amerikanischen Staates weiterhin sicherstellt. Und zum anderen – so hoffen wir jedenfalls –, weil Sie von uns gewohnt sind und erwarten, Ihnen derart reißerische Überschriften nicht nur zu ersparen, sondern Sie sogar vor ihnen zu warnen. Aber noch vor wenigen Tagen passte ein solches Tamtam in die allgemeine Aufregung rund um das Thema.
Widerstandsfähige US-Wirtschaft, aber hohe Staatsschulden
Aber eins nach dem anderen. In vielerlei Hinsicht unterscheidet sich die Wirtschaft der USA von derjenigen anderer Industrieländer: Die heimische Konjunktur reagiert auf Krisen zumeist äußerst robust (wie auch momentan) und überrascht damit viele Beobachterinnen und Beobachter immer wieder aufs Neue. Der US-Arbeitsmarkt ist flexibler und damit anpassungsfähiger, das Wachstum insgesamt meist höher als zum Beispiel in Europa. Mit Blick auf die aktuelle Staatsverschuldung kann das Land allerdings nicht glänzen.
Auch in den USA sind die Staatsschulden, besonders in den letzten Jahren, rasant gestiegen (wie die nachfolgende Abbildung zeigt). Bei genauerer Betrachtung haben die USA – gemessen an der Wirtschaftsleistung (dem Bruttoinlandsprodukt BIP) – sogar einen noch höheren Verschuldungsgrad als die Länder der Euro-Zone im Durchschnitt (ca. 120 % gegenüber 92 %). Auch das in der Euro-Zone immer wieder kontrovers diskutierte Maastricht-Kriterium von maximal 3 % Neuverschuldung (in Höhe des BIP) pro Jahr hätten die USA seit 2007 nicht mehr eingehalten – in der Euro-Zone war das immerhin in 2014 im Durchschnitt zuletzt der Fall.
Und das passiert ausgerechnet in den USA schon seit den 1960er Jahren – der sogenannten Schuldenobergrenze zum Trotz.
US-Schuldenobergrenze verschiebt sich immer weiter nach oben
Dem Grunde nach darf die US-Staatsverschuldung die jeweils geltende Obergrenze nicht übersteigen. Allerdings kann die Obergrenze durch eine parlamentarische Mehrheit angehoben werden. Das ist seit den 1960er Jahren bereits knapp achtzigmal (!) passiert. Die stetig ansteigende hohe Schuldenlast der USA ist also nur auf den ersten Blick ein Widerspruch zur ursprünglichen Idee einer Begrenzung der Staatsverschuldung (Schuldenobergrenze) – denn die Obergrenze wird seit Jahren immer weiter angehoben.
Damit wird das eigentliche Ziel, das die Schuldenobergrenze verfolgt (nämlich die Staatsverschuldung im Zaum zu halten), konterkariert. Die Anhebung der Obergrenze geschieht aber nur in den seltensten Fällen völlig geräuschlos. Vielmehr ist die alle Jahre wiederkehrende politische Auseinandersetzung um die Anhebung dieser Obergrenze nicht selten eine willkommene Gelegenheit, (politische) Forderungen durchzusetzen. Es handelt sich offenkundig um die Spielregeln, nach denen das politische Tagesgeschäft in Washington abläuft: Man erzeugt eine Krise (in diesem Fall die Partei der Republikaner), um den Gegner – in diesem Fall Präsident Biden – zu diskreditieren und sich dabei selbst zu profilieren.
US-Zahlungsausfall hätte weltweit gravierende Folgen
Die aufgebaute Drohkulisse zieht ihre Brisanz daraus, dass ein tatsächlicher Zahlungsausfall der USA – also ein Szenario, in dem das Land Zinsen und/oder die Rückzahlung von Staatsschuldentiteln nicht mehr leisten kann – ein erhebliches Risiko für die Finanzmärkte und in der Folge auch für die Volkswirtschaften weltweit darstellt. Denn erstens gibt es keine historischen Anhaltspunkte dafür, was in einem derartigen Fall tatsächlich passieren würde – bislang ist es schließlich noch nie zu einem Zahlungsausfall der USA gekommen.
Und zweitens – das ist noch viel ausschlaggebender – genießt die US-Staatsanleihe als Anlageinstrument weltweit das uneingeschränkte Vertrauen der Anlegerinnen und Anleger. Mit US-Staatsanleihen investiert man schließlich in die größte Volkswirtschaft der Welt, deren Währung gleichzeitig auch Weltleitwährung ist. Die Anleihen dienen zudem in vielfältiger Art und Weise als (quasi unumstößliche) Sicherheiten, als globaler Referenzmaßstab der Anleihemärkte und schließlich als sicherer Hafen in Zeiten erhöhter wirtschaftlicher und politischer Unsicherheiten.
All diese Funktionen stünden zur Disposition, sobald das bisher Undenkbare doch eintreten sollte – der Zahlungsausfall der USA. In einem derartigen Szenario müssten sich die Finanzmärkte auf eine ganz neue Welt einstellen – das würde keinesfalls reibungslos vonstattengehen. Dieses „Schreckensszenario“ ist aber auch den maßgeblich beteiligten US-Politikern letztlich nicht ganz unbekannt.
Festzuhalten bleibt: Die Warnungen der letzten Wochen vor den schlimmen Folgen einer Eskalation des US-Schuldenstreits entbehrten keinesfalls einer sachlichen Grundlage. Was allerdings durchaus einer Grundlage entbehrt, ist die Art und Weise, mit der diese Gefahr oft als etwas Neues und gänzlich Unvorhergesehenes in teils reißerischen Schlagzeilen thematisiert wird. Denn wie schon erwähnt, entspinnt sich das Gezerre um die Schuldenobergrenze, das wir in den letzten Wochen medial verfolgen konnten, seit Jahrzehnten mit schöner Regelmäßigkeit.
Keinesfalls neu oder unvorhergesehen ist es folglich, dass dieser oft auch als „Schuldenstreit“ bezeichnete politische Schlagabtausch einmal mehr mit viel Dramatik und immer neuen Zuspitzungen daherkommt. Alles andere als ungefährlich, aber eben auch alles andere als neu. Und offensichtlich immer wieder eine von Politikerinnen und Politikern gern genutzte Bühne, um dem Gegner zu schaden.
Was machen die Börsen – sollten Anlegerinnen und Anleger in solchen Fällen aktiv werden?
Die Hysterie, die zwischenzeitlich trotz allem hier und da festzustellen war, hat naturgemäß auch Auswirkungen auf die Geldanlage. Denn nicht selten findet sich unter einer reißerisch gewählten Überschrift (wie wir sie auch ausnahmsweise fürs heutige Logbuch gewählt haben) die Empfehlung, angesichts einer unmittelbar bevorstehenden „finanziellen Kernschmelze“ doch das eigene Vermögen schnell „in Sicherheit“ zu bringen – ja, auch das ist immer mal wieder zu lesen. Wobei sich trefflich darüber streiten ließe, was angesichts einer finanziellen Kernschmelze „in Sicherheit bringen“ konkret bedeutet.
In den Schuldenstreit-Episoden der letzten Jahrzehnte wäre der Depot-Komplettverkauf im Nachhinein betrachtet grundfalsch gewesen. Exemplarisch haben wir uns die US-Börsenentwicklung (anhand des S&P 500 und des Nasdaq Composite Index) für die Jahre 1996, 2011 und 2013 näher angeschaut – alles Jahre, in denen der Schuldenstreit in den USA recht zugespitzt tobte. 1996 und 2013 stiegen die amerikanischen Aktienmärkte per saldo – inklusive zwischenzeitlicher Rückschläge, wie die beiden folgenden Abbildungen zeigen. Wer erst nach erzielter Einigung im Schuldenstreit (rote senkrechte Markierung in den Grafiken) eingestiegen war, profitierte zwar anschließend von steigenden Kursen, verpasste aber die Aufwärtsbewegung im Vorfeld der Einigung.
Im Jahr 2011 war die erzielte Einigung sogar das denkbar schlechteste Signal, um wieder in den Markt einzusteigen – durch die Aberkennung des höchsten Bonitätsratings für die USA (AAA – „Triple A“) kam es seinerzeit nach der Einigung erst einmal zu deutlichen Kursverlusten.
Fazit
Auch im Zusammenhang mit dem sicherlich immer wiederkehrenden US-Schuldenstreit macht sich eine prognosefreie und langfristige Aufstellung des eigenen Vermögens bezahlt. Erstens, weil die oft herbeigeschriebene Dramatik auf den zweiten Blick keine ist. Zweitens, weil Beweggründe und Absichten der maßgeblichen politischen Akteurinnen und Akteure kaum sichere Schlüsse auf den Zeitplan und konkrete Ergebnisse der Verhandlungen zulassen. Und drittens, weil die Reaktion der Finanzmärkte auf diese unvorhersehbaren Ereignisse noch viel unvorhersehbarer ist.
Für Ihre Geldanlage – und jetzt lassen Sie uns die heutige ungewöhnlich reißerische Überschrift endlich ad acta legen – besteht also die größte Gefahr nicht in einem drohenden US-Zahlungsausfall, sondern in panischen Kurzschluss-Reaktionen, die erheblichen finanziellen Schaden anrichten können.
Autor: Prof. Dr. Stefan May, Leiter Anlagestrategie und Produktentwicklung der Quirin Privatbank
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Wer tiefer einsteigen möchte, dem empfehlen wir die Studie „Dimensionen unsystematischen Risikos“. Hier erfahren Sie, welche Risiken konstruktiv und welche schädlich sind und wie man „schlechte“ Risiken durch eine breite Streuung fast eliminieren kann. Demnach sollte man eben nicht nur auf US-Staatsanleihen setzen, sondern auch bei Anleihen maximal breit streuen.
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