Im November war es wieder so weit: Unter der Überschrift „Wachstumskräfte stärken – in die Zukunft investieren“ präsentierte der Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung (die sogenannten „fünf Wirtschaftsweisen“) auf insgesamt 423 Seiten seine Einschätzung zur aktuellen wirtschaftlichen Lage in Deutschland, weist darin auf Missstände hin und unterbreitet konkrete Empfehlungen zu ihrer Beseitigung.
Fast schon traditionell liegt dabei ein besonderes Augenmerk auf den Einschätzungen zur weiteren Entwicklung der Wirtschaftsleistung, insbesondere des in den nächsten Jahren zu erwartenden realen Wachstums des Bruttoinlandsprodukts (BIP) sowie der Inflation.
Exkurs: Das reale BIP gibt Auskunft über die Menge der produzierten bzw. verkauften Güter und Dienstleistungen in einer Volkswirtschaft unabhängig von Veränderungen der Preise. Hierdurch wird die verzerrende Wirkung von Preisänderungen auf das BIP ausgeschaltet. Das reale BIP wird deshalb auch BIP zu konstanten Preisen genannt.
Deutschland: Wachstums- und Inflationsaussichten
Vergleicht man nun die BIP-Wachstumszahlen Deutschlands mit den entsprechenden Durchschnittswerten des gesamten Euro-Raums wird schnell deutlich, dass Deutschland in der Coronakrise (2020) zwar keinen so starken Einbruch der Wirtschaftsleistung hinnehmen musste, dass es aber seit 2021 deutlich hinter den anderen Euro-Ländern zurückbleibt. Daran dürfte sich auch 2023 und 2024 nichts ändern (siehe nachfolgende Abbildung).
Was die Inflation anbelangt, so geht auch der Sachverständigenrat – wie die meisten Wirtschaftsforscher – für die nächsten Jahre von weiterhin rückläufigen Raten aus. Allerdings ist damit zu rechnen, dass sich die Rückkehr zu einer „normalen“ Inflationsrate in Höhe von rund 2 % bis Ende 2025 hinziehen wird – wenn nicht sogar bis Ende 2026.
Über all diese Zahlen, Entwicklungen und Aussichten wurde in der Presse ausführlich berichtet und sie sollten daher niemanden mehr wirklich überraschen.
Das eigentliche Problem: ungenügendes Potenzialwachstum
Allerdings gibt es speziell im diesjährigen Gutachten einen Aspekt, der in der Öffentlichkeit – wenn überhaupt – nur sehr wenig beachtet wurde, nämlich die Einschätzung der zu erwartenden Entwicklung des sogenannten „Produktionspotenzials“. Hier liegt nach unserer Einschätzung der eigentlich relevante Teil des Gutachtens, der vor allem auch politische Brisanz hat. Man kann die diesbezüglichen Ausführungen nämlich durchaus als eine schallende Ohrfeige für die deutsche Wirtschaftspolitik der vergangenen Jahre und sogar Jahrzehnte interpretieren. Beginnen wir damit, was dazu im Gutachten konkret steht:
„Allerdings deutet die […] Langfristprojektion des Produktionspotenzials, unabhängig von der aktuellen Konjunkturschwäche, auf deutliche Wachstumshemmnisse für die kommenden Jahrzehnte hin. Diese Hemmnisse zeichnen sich bereits seit vielen Jahren ab und wurden bisher nicht ausreichend adressiert.“
Es geht also darum, dass sich in Deutschland seit Jahren eine Situation entwickelt, die eine ernsthafte Behinderung für das Wachstum des Produktionspotenzials darstellt. Und vor allem: Der erwähnte Prozess zeichnet sich bereits seit Jahren ab, aber trotzdem wurde er „bisher nicht ausreichend adressiert.“ Im Klartext: Die im Gutachten aufgezeigten Probleme sind schon lange bekannt und offensichtlich, aber die Politik hat sich nicht um deren Behebung gekümmert bzw. waren sie ihr schlichtweg mehr oder weniger egal.
„Potenzielles“ und „normales“ Wachstum
Doch warum ist vor allem die Schwächung des Produktionspotenzials so problematisch? Und: Warum ist das problematischer als eine allgemeine Wachstums- bzw. Konjunkturschwäche? Die Antwort lautet: Das Produktionspotenzial repräsentiert die vorhandenen Produktionsmöglichkeiten und das verrät im Zweifel mehr über den tatsächlichen Zustand einer Volkswirtschaft als der aktuell bestehende Produktionsumfang.
Im Ökonomen-Jargon: Das Produktionspotenzial ist die (bewertete) Menge aller Güter und Dienstleistungen, die eine Volkswirtschaft produzieren könnte, wenn all ihre Kapazitäten in normaler Weise ausgelastet wären. Dementsprechend ist das Potenzialwachstum der Zuwachs in der Wirtschaftsleistung (sprich des BIP), den eine Volkswirtschaft bei Normalauslastung aller Produktionsfaktoren, d. h. insbesondere bei Vollbeschäftigung, erreichen könnte.
Folglich ist es aufschlussreich, die tatsächliche Wirtschaftsleistung der potenziellen gegenüberzustellen. Im historischen Vergleich zeigt sich dabei, dass die Entwicklung der tatsächlichen Wirtschaftsleistung um die des Produktionspotenzials schwankt. Befindet sich die Volkwirtschaft in einer Boomphase, dann sind die Produktionsfaktoren (sämtliche materiellen und immateriellen Güter und Dienstleistungen, die in der Wirtschaft zum Einsatz kommen) häufig weit überdurchschnittlich ausgelastet und auf Arbeitnehmerseite häufen sich beispielsweise die Überstunden. Im Ergebnis liegt dann die tatsächliche Wirtschaftsleistung über dem Produktionspotenzial. Befindet sich die Volkwirtschaft dagegen in einer Abkühlungsphase oder gar einer Rezession, dann sind die Auftragsbücher nur teilweise gefüllt, die Kapazitäten sind unterausgelastet und es werden womöglich sogar Leute entlassen. Im Ergebnis liegt die tatsächliche Wirtschaftsleistung unter dem Produktionspotenzial.
Vergleicht man das Ganze mit der Arbeitsleistung eines einzelnen Arbeitnehmers, dann entspricht sein Produktionspotenzial der Wertschöpfung, die er erbringt, wenn er weder Überstunden macht (Zusatzstunden wären eine Überauslastung des Produktionsfaktors Arbeit) noch einer Teilzeitbeschäftigung nachgeht (das wäre eine Unterauslastung). Seine tatsächliche Wirtschaftsleistung entspricht dagegen seiner individuellen Wertschöpfung unter Berücksichtigung von geleisteten Überstunden oder im Rahmen eines Teilzeitjobs.
Wesentliche Ursachen für eine Potenzialschwäche
Die Analogie zwischen Volkswirtschaft und einer einzelnen Arbeitnehmerin bzw. einem einzelnen Arbeitnehmer hilft uns auch zu verstehen, wo sich die entscheidenden Stellschrauben befinden. Die Wertschöpfung einer Arbeitnehmerin kann zum einen steigen, weil sie (oder er) länger arbeitet. Sie kann aber auch zunehmen, weil bei gleicher Arbeitszeit produktiver gearbeitet wird. Damit haben wir die zwei wesentlichen Faktoren identifiziert, die auch für eine ganze Volkswirtschaft darüber entscheiden, wie hoch ihr Produktionspotenzial ist: das inländische Arbeitskräfteangebot und die sogenannte „Faktorproduktivität“.
Leider sieht der Sachverständigenrat in beiden Bereichen seit Jahren bedenkliche Entwicklungen im Gange. So schreibt er zum Arbeitskräfteangebot:
„Erstens ist absehbar, dass durch die demografische Alterung der Anteil der 20- bis 64-Jährigen an der Gesamtbevölkerung sinken wird und das inländische Arbeitsvolumen zurückgeht.“
Und zur Faktorproduktivität führt er aus:
„Zweitens sind das Produktivitätswachstum und das Wachstum des Kapitalstocks, aber auch der Modernitätsgrad des Kapitalstocks, seit Jahrzehnten rückläufig.“
(Kapitalstock: Bestand an Sachkapital in einer Volkswirtschaft wie Fabrikgebäude, Maschinen oder technische Anlagen, die zu Produktionszwecken eingesetzt werden.)
Die Gesamteinschätzung ist folglich wenig erfreulich:
„Deutschland droht somit eine Alterung nicht nur seiner Bevölkerung, sondern auch seiner industriellen Basis.“
Das sichtbare Ergebnis dieser Entwicklungen ist ein dramatischer Rückgang des Potenzialwachstums in den letzten Jahrzehnten. Lag es vor der deutschen Wiedervereinigung im Schnitt bei 2,4 % pro Jahr, so ist es in den Jahren zwischen 2000 und 2019 spürbar gefallen und belief sich im Durchschnitt der letzten fünf Jahre auf deutlich unter 1 % jährlich. Für die vor uns liegenden zehn Jahre kann nur noch ein Zuwachs von rund 0,4 % p. a. erwartet werden. Die folgende Abbildung zeigt den besorgniserregenden Rückgang des Potenzialwachstums in den letzten Jahrzehnten sowie die Projektion des Sachverständigenrats für die nächsten Jahre.
Wie kann das Problem gelöst werden?
Im Gutachten wird eine ganze Reihe von Maßnahmen empfohlen, welche helfen könnten, die skizzierten Wachstumsprobleme zu lösen.
Um das Arbeitsangebot langfristig zu erhöhen, schlägt der Sachverständigenrat unter anderem folgende Maßnahmen vor:
Zur Steigerung der Faktorproduktivität macht er folgende Vorschläge:
Jeder einzelne dieser (und einer Reihe weiterer) Vorschläge wird im Gutachten näher begründet und detailliert beschrieben. In diesem Logbuch möchten wir daher lediglich die beiden jeweils erstgenannten Punkte kommentieren.
Zuwanderung in den Arbeitsmarkt vereinfachen
Deutschland ist mittlerweile ein Land, das offensichtlich einen schwerwiegenden Fachkräftemangel hat. Dieser wird sich aufgrund der bereits erwähnten demografischen Entwicklung in den nächsten 10 bis 15 Jahren massiv verschärfen.
Zugleich sind wir aber das Land in Europa mit den höchsten Zuwanderungszahlen. Offensichtlich aber können oder wollen wir diese Leute nicht in den heimischen Arbeitsmarkt integrieren. Die Situation der vielen Geflüchteten aus der Ukraine ist hierfür exemplarisch. Während in Deutschland nach einer Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung lediglich 18 % einer Arbeit nachgehen sind es in Polen – dem Land, welches nach Deutschland die meisten Ukrainer aufgenommen hat – rund 70 % (!).
Ähnlich hohe Quoten gibt es in Tschechien, aber auch zum Beispiel in Dänemark. Die Gründe für die hierzulande geringe Arbeitsmarktteilhabe sind – nicht überraschend – bürokratische Hürden und vor allem völlig falsche Anreize. Verfolgt man nun die entsprechenden politischen Debatten, gewinnt man leider nicht den Eindruck, dass die Politik einer Lösung dieses Problems näher kommt. Stattdessen werden endlos lange Scheindebatten wie die über verstärkte Abschiebungen oder eine „europäische Lösung des Problems“ geführt.
Wagniskapital mobilisieren
In Deutschland gibt es zu wenige (erfolgreiche) Start-ups. Diese sind aber für eine dauerhaft florierende Wirtschaft von großer Bedeutung, denn sie bereiten gewissermaßen den Boden für zukünftige Wachstumsfelder. Der Mangel an deutschen Start-ups liegt nicht nur, aber auch an den unzureichenden Finanzierungsmöglichkeiten für junge Unternehmungen, die zweifelsohne Risiken bergen, aber eben auch für technologischen Fortschritt sorgen können.
Wie die nachfolgende Grafik im Vergleich mit den USA verdeutlicht, dominiert bei uns die Unternehmensfinanzierung mittels Fremdkapital, insbesondere Bankdarlehen. Finanzierungen mittels Eigenkapital dagegen fristen bei uns nach wie vor ein Mauerblümchendasein. Dies vor allem dann, wenn es um börsennotiertes Eigenkapital geht (siehe nachfolgende Abbildung).
Eine Dominanz des Fremdkapitals bedeutet aber auch eine Dominanz des absoluten Vorsichtsprinzips. Dementsprechend ist der Anteil an Wagnisfinanzierungen (in Prozent des BIP) in Deutschland lediglich ein gutes Zehntel des US-Anteils. Auch der Lösung dieses Problems stehen eine übermäßige Bürokratie, aber auch stark fragmentierte und wenig liquide europäische Kapitalmärkte entgegen.
Selbst wenn alle vom Sachverständigenrat vorgeschlagenen Lösungsmöglichkeiten in Angriff genommen würden, bleibt die Tatsache bestehen, dass die skizzierten Probleme langfristiger Natur sind. Sie werden uns daher noch länger plagen. Der bekannte Ausspruch, wonach Investitionen von heute das Wachstum von morgen sind, trifft Deutschland nun mit voller Wucht. Allerdings in der unerfreulichen Variante, nach der in der Vergangenheit versäumte Investitionen die Wachstumsschwäche von heute sind.
Fazit aus Sicht der Aktienmärkte
Da wirtschaftliches Wachstum gewissermaßen das Lebenselixier der Aktienmärkte ist, wäre es vor dem Hintergrund der dargestellten Probleme naheliegend, speziell für den deutschen Aktienmarkt eine längere Schwächephase zu prognostizieren und deutsche Aktien konsequenterweise abzustoßen. Doch ganz so einfach ist die Sache nicht. Zum einen ist der Zusammenhang zwischen Wirtschaftswachstum und Aktienmarktentwicklung zwar eindeutig belegt, trotzdem aber ist er nicht konkret ausrechenbar.
Zum anderen sind insbesondere deutsche Unternehmen in hohem Maße international tätig und von Entwicklungen in anderen Ländern womöglich sogar stärker betroffen als von denen in Deutschland. Auf Volkswagen und seinen immens wichtigen Absatzmarkt China beispielsweise dürfte dies zutreffen.
Der entscheidende Punkt aber ist: In einem vernünftig strukturierten internationalen Aktienportfolio hat Deutschland – trotz seiner immer noch großen wirtschaftlichen Bedeutung – ohnehin nur einen äußerst geringen Anteil. Im MSCI-Weltindex z. B. liegt er nur bei rund 2 % (!). Der Grund dafür ist vor allem die geringe Marktkapitalisierung deutscher Aktien, was manche Analysten auch auf die skizzierten Probleme Deutschlands mit seinem Potenzialwachstum zurückführen, welche sich ja bereits seit vielen Jahren abzeichnen.
Trotz der aktuellen Probleme Deutschlands besteht somit für ein vernünftig strukturiertes und international ausgerichtetes Aktienportfolio kein Handlungsbedarf. Erfahrungsgemäß weisen jedoch viele Aktiendepots deutscher Anlegerinnen und Anleger eine Unwucht in Bezug auf den Anteil heimischer Aktien auf (sogenanntes „Home Bias“). Den hiervon Betroffenen sollte der vorliegende Logbuch-Artikel auch einen Denkanstoß liefern, daran etwas zu ändern.
Autor: Prof. Dr. Stefan May, Leiter Anlagestrategie und Produktentwicklung der Quirin Privatbank
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